Pixity - Stadt der Unsichtbaren
nichts hasste Bentner mehr als Unpünktlichkeit. Er schaltete den Rechner ein und widmete sich dem Vorspiel für einen anderen, sehr viel längeren orgiastischen Zustand.
Sie wurden zu den fünf Fingern einer Hand. Bentner hatte eine staubtrockene Wüste vorgefunden, aus Anfänger-Html zusammengebaut, so dass jeder Schüler des Landes schreiend floh, wenn das Emblem von »Netz für Kids« auftauchte. Ein digitalisiertes Lehrbuch, so unbeweglich und stumm wie jede papierne Leiche. »Tja«, hatte Alina gesagt, als sie sich zum ersten Mal durch das didaktische Elend klickten, »wir können’s halt nicht besser. Dafür haben wir jetzt dich. Oder?« Wieder dieser Blick, gegen den Bentner am Morgen jedoch von Olivia nachhaltig geimpft worden war. Bentner hatte schweigend mit seiner Arbeit begonnen. Sich mit Gorland angefreundet, was nicht leicht war, sie hockten Nachmittage über Bentners stümperhaften Skizzen, sie entwarfen eine Linie, zu der Alina ihren fachlichen Ratschlag gab, während ihnen Sarkovy über die Schultern schaute, auf dieselben klopfte und »Das wird saugeil!« ermunterte. Weidenfeld grübelte über Zahlen, besah sich die Ergebnisse höchstens in den Mittagspausen und spuckte mit jedem »Ah ja, schön« Partikel seiner Wurstbrote gegen den Monitor.
Die ersten Spiele entstanden und wurden bestaunt. Jetzt kam auch Weidenfeld des Öfteren und mit leerem Mund aus seinem Zimmer und murmelte eine Art Lob. Sarkovy schrieb Förderanträge. Das Projekt sollte noch ein Jahr laufen, es musste verlängert werden, umgewandelt, irgendetwas, sie waren jetzt multimedial, sie warfen sich die Ideen zu, sie berauschten sich. Bald stand ein großer runder Tisch im Raum, darauf Kekse und Kaffee. Sie saßen dort, sie scherzten, sie kritzelten spontane Ideen auf Papier, sie vergaßen die Zeit, sie steuerten Taco’s an, wo Rigo nicht mehr nur von Augenkrebs sprach, sondern sie »die komischen Fünf« nannte. »Bringt Unglück«, sagte er, »ungerade Zahl.« Sie lachten ihn aus.
»Woran denkst du gerade?« Er wollte noch immer nicht glauben, dass die Hände, die jetzt über seinen Rücken fuhren, Vivaldi spielen konnten. »An nichts«, log er. Olivia massierte ihm den Nacken. »Du solltest nicht so viel am Computer sitzen. Alles ganz verbacken.« Er brachte ein »Ja« heraus und tippte weiter, sie sagte: »gut«, und begann tiefer zu massieren.
Nach neun Monaten war ihr Projekt wie jedes ordentliche Kind auf der Welt. Es gab Lernspiele für Mathematik, Deutsch und Allgemeinbildung, es gab Links und einen unsichtbaren Lehrer, der jeden Fehler sanft monierte, immer wieder, bis er verschwunden war. Dahinter lauerte eine mächtige Datenbank, die alles sammelte, alles auswertete, auf alles reagierte. Bentner hatte einen Chat programmiert, keinen extravaganten, einen spartanischen eher. Sie hatten den Link an Schulen geschickt und saßen gespannt vor dem Rechner, warteten auf den ersten, der sich hineintraute. Es war natürlich ein Lehrer, der fragte, ob der Chat auch eine Rechtschreibprüfung wie Word habe, und wenn nicht, dann sei das doch sicher ganz leicht zu bewerkstelligen. Bentner hätte ihn erschlagen können.
Die erste Schülerin hieß Lara. Sie schrieb: »hey!«, und Alina an der Tastatur antwortete: »Ey, dir auch hey, mein Schatzi«, was höchst uncool war und Lara schleunigst zu icq zurücktrieb. Aber es kamen andere. Sie radebrechten, sie verkürzten die Sprache, sie beschimpften sich und machten sich an, aber sie waren da. Und vielleicht entstand alles in diesen Minuten, die ganze Stadt, der große Moloch.
Neun Monate. Sie hatten eine multimediale Plattform für Schüler geschaffen, erhielten einen – selbstverständlich undotierten – Preis, sie schrieben Folgeanträge und Neuanträge, suchten Partner und Fürsprecher, schrieben neue Anträge – und erhielten endlich Nachricht der Firmenleitung, ihre befristeten Verträge könnten leider nicht verlängert werden, die Zeiten seien nun einmal so und nicht anders, aber das wüssten sie schließlich am besten. Die Zeiten hatten sich geändert, die Blase war geplatzt, alles Gute für den weiteren Lebensweg.
»Hast du dir schon die Unterlagen für Arbeitslosengeld besorgt?« Alina lachte. »Oder bewirbst du dich irgendwo?«
Bentner bewarb sich nirgendwo. Er und Olivia hatten beschlossen, sich eine gemeinsame Wohnung zu mieten, Bentner ließ all das über sich ergehen, die Verhandlungen mit Maklern, den Umzug, das Renovieren, das Einrichten. Etwas wuchs in
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