Polarfieber (German Edition)
1
Wer die Militärbasis in Thule erreichte und nicht ausgerechnet ein Tourist war – Touristen kamen selten hierher – hatte immer ein erstes Ziel. Silas freute sich darauf. Der einzige Grund, weshalb er auf dem amerikanischen Stützpunkt landete und nicht direkt bis nach Qaanaaq weiterflog , war die Halle . Eine wilde Mischung aus Soldatenkantine und Pub, mit gelegentlicher Live-Musik und mehr oder weniger tiefsinnigen Gesprächen zwischen Menschen aller Hautfarben und politischen und religiösen Gesinnungen. Er zog sich die dicken Pelzfäustlinge von den Händen und sprang auf den schneebestäubten Asphalt hinunter. Der Fahrer des Schleppers e r kannte ihn und grinste .
„ Du schon wieder “ , sagte Marc, ein Amerikaner, der sich nach se i ner aktiven Militärlaufbahn hier im Norden Grönlands festg e setzt hatte wie das Inlandeis. „ Was treibt dich dieses Mal hie r her? “
„ Charter. Auf dem Weg nach Qaanaaq. “
„ Du hast dein Ziel verfehlt, mein Junge. Wusste gar nicht, dass in Qaanaaq ein Schneesturm herrscht, der dich hierher geweht hat. “
„ Red kein dummes Zeug. Wann hast du Feierabend? “ Silas schü t telte Marc die Hand, doch dann überlegte er es sich und zog den riesigen Mann in eine feste Umarmung. Kontakt zu anderen Me n schen war hier selten, die Gelegenheit ergab sich kaum.
„ Wenn es dunkel wird “ , erwiderte Marc.
„ Sehr witzig. Bringst du mich zum Kontor? Muss den Flug a b zeichnen lassen. “
Marc winkte ab. „ Ich mach das für dich. Wo willst du wirklich hin? “
Silas zwinkerte nur und schwang sich auf den Beifahrersitz des grellgelben zivilen Flughafenjeeps. „ Kühl bei euch hier oben “ , b e merkte er und zog sich die Handschuhe wieder an.
„ Die Jahreszeit für Jeans und T-Shirt ist vorbei. “ Marc hatte den Motor laufen lassen, um zu verhindern, dass es dem Jeep zu kalt wurde und er nicht ansprang. Ein immerwährendes Problem in Th u le. Silas schüttelte den Kopf, als Marc ihm eine Zigarette anbot. Rol l split t knirschte unter den Reifen, während sie den Asphalt der La n debahn verließen und hinauf in die Siedlung fuhren. Als er einen ersten Blick auf den warmen Glanz in den Fenstern der Halle e r haschte, schloss Silas genießerisch die Augen. Oh , ja. In Qaanaaq gab es zwar Alkohol, aber selten Gesellschaft. Man saß in seiner Kammer in Claus Jensens Hotel und leerte trübselig ein Glas nach dem and e ren. Auf der Militärbasis in Thule gab es ko s tenlos Gespräche dazu.
„ Ich komm in ein oder zwei Stunden nach “ , versprach Marc, hielt an und ließ Silas aussteigen. „ Ich kümmere mich um deinen Cho p per. Wann fliegst du weiter? Heute noch? “
„ Heute werde ich zu viel trinken, um noch weiterfliegen zu kö n nen. “
Ein Grinsen erschien auf dem wettergegerbten Gesicht des and e ren. „ Dann wirst du wohl später ein Bett brauchen? “
„ Das wird sich im Laufe des Abends herausstellen. Vielleicht kri e ge ich ja ein besseres Angebot als deine Gästecouch. “
„ Du bist unverbesserlich. “ Marc gab ihm einen Stoß und Silas fand sich auf dem unbefestigten Vorplatz der Halle wieder. Hier herrschte immer Betrieb. Piloten betraten die Halle oder verließen sie wieder, viele allein, manche in Grüppchen. Dick eingepackt in gefütterte Parkas, Fellmützen auf den Köpfen, Schals vor den Mündern. Jeder Atemstoß bildete weiße Wolke n , die sich zu einem dichten Hochn e bel verbanden. Thule Ende Okt o ber war eine verdammt frostige Angelegenheit. Seit etwa achtundvierzig Stunden herrschte Pola r nacht. Als er die Halle betrat, bemerkte er an der Tür zwei Mädchen , wie sie in Thule an vielen Ecken standen. Offiziell natürlich nicht, aber die jungen Piloten, die es hierher verschlug, brauchten A b wechslung. Silas war kein junger Pilot mehr und dem Militär hatte er vor Jahren den Rücken gekehrt. Aber die Mädchen von Th u le hatte er zu schätzen gelernt. Sie lebten ein frostiges Leben in einer eiska l ten Welt – und das in vielerlei Hinsicht. Die Wärme, die sie schen k ten, tat gut. Als er neu nach Grönland gekommen war, hätte Silas beinahe eine von ihnen mit nach Hause genommen . Palleq, ein za u berhaftes Geschöpf mit hüftlangem dichte m Haar und rabenschwa r zen Wimpern , a ber als er herausfand, dass Palleq erst sec h zehn war und ihr Vater, ein Jäger in Siorapaluk, nach ihr suchte, hatte er die Beine in die Hand genommen. Das L etzte, was er brauchte, war ein halbes Kind mit nach Maniitsoq zu nehmen und einen
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