Polt muss weinen
Sie rückte mit einer unwilligen Bewegung einen geblümten Polster auf der Küchenbank zurecht. »Nehmen Sie Platz. Ich bin auch irgendwie erleichtert, wissen Sie?« Im gleichen Augenblick schüttelte ein trockenes Schluchzen ihren Körper, und sie wandte sich ab, um Tränen aus dem Gesicht zu wischen.
Polt schwieg verlegen und betrachtete eingehend die Malerei auf der Küchenwand: blaßrote Bänder auf gelblichem Untergrund. Und da war Frau Hahn, nicht alt, nicht jung, in einem dieser kleingemusterten billigen Schürzenkleider, mager und unscheinbar. Sie schaute ihn jetzt wieder an. »Wollen Sie wissen, warum ich bei ihm geblieben bin?« fragte sie, wieder ganz ruhig. Simon Polt nickte wortlos. »Er hat gesagt, er schlägt mir die Zähne ein, wenn ich gehe.«
Der Inspektor sagte noch immer nichts. Natürlich erinnerte er sich daran, daß ihm der Gemeindearzt öfter von eigenartigen Verletzungen erzählt hatte, von blauen Flecken und Blutergüssen. Einmal hatte er sogar offiziell Meldung gemacht, als Frau Hahn am ganzen Körper böse zugerichtet und mit einem gebrochenen Arm zu ihm gekommen war. Es sei im Vollrausch geschehen, gab sie damals an, irgendwann in der Nacht sei sie über die Treppe vom ersten Stock ins Vorzimmer gestürzt und erst wieder in den frühen Morgenstunden zu Bewußtsein gekommen.
»Er hat Sie geschlagen?« fragte Polt ruhig.
»Immer, wenn ihm danach war«, gab sie mit gleichgültiger Stimme Antwort.
»Und Sie haben sich nie gewehrt, nie Hilfe gesucht?«
»Mir fehlt die Kraft dazu, seit Jahren schon. Nicht einmal zum Haß hat es gereicht.«
»Und damals? Das mit der Treppe?«
Ein Lächeln lag für Sekunden auf ihrem Gesicht. »Es hat Streit gegeben im Schlafzimmer, das heißt, er hat mich beschimpft und später die Treppe hinuntergestoßen. Irgendwas war mit meinem rechten Arm passiert, denn ich konnte ihn kaum bewegen. Er hat den Arm ganz sanft genommen und ihn dann verdreht, bis es knirschte.«
»Und jetzt?«
»Kinder sind keine da. Ich werde wohl das Haus erben, das Auto und einiges Geld.« Frau Hahn goß ein wenig kaltes Wasser in den großen Topf mit der künftigen Rindsuppe. »Irgendeine Rente wird man mir auch zusprechen, und so falle ich keinem zur Last. Gar nicht so übel, letzten Endes, was?«
Zu seinem Erstaunen hörte Polt ein kleines, boshaftes Gelächter. »Wie ist das eigentlich, wenn man so in Häuser kommt, als Überbringer von Todesnachrichten?« fragte Frau Hahn und legte ohne Nachdruck ihre rechte Hand auf einen Unterarm des Inspektors. »Schön scheußlich?«
»Noch schlimmer.«
Polt stand auf und drückte sich die Dienstmütze aufs Haupt. »Wenn ich irgendwie helfen kann«, er war schon halb im Gehen.
»Schon gut.« Fast klang ihre Stimme so, als wolle sie ihn trösten.
»Scheiße, verdammte Scheiße«, murmelte der Inspektor, als sich die Glastür hinter ihm geschlossen hatte. »Hierher!«
Polt zuckte zusammen und blieb stehen, als er diesen energischen Befehl hörte. Mit leisen Schritten ging er zum Haus zurück, öffnete behutsam die Glastür und sah Frau Hahn, die wie in Trance mit einem Lederriemen auf den Hund eindrosch, der in gekrümmter Haltung dastand und winselte. Der Inspektor schloß vorsichtig die Tür, seufzte tief und zwängte sich in den Streifenwagen.
Diesmal nahm er die Bundesstraße und erreichte rasch den Ortsrand von Burgheim, wo die neuen Siedlungshäuser standen, getreue Spiegelbilder des meist erschütternden Stilempfindens ihrer Erbauer. Polts Dienststelle war in einem jener großen Häuser aus der Zeit um die Jahrhundertwende untergebracht, die den Hauptplatz umringten und wenigstens an der Fassade mit gründerzeitlichem Dekor Wohlstand und Bedeutung zur Schau stellten. Hier war auch eine Bank zu finden, das Büro des Notars, der zweimal in der Woche amtierte, und die Stadtbücherei.
Der Inspektor lächelte, als er den Dienstwagen auf seinen reservierten Platz stellte: Parkraum war so ziemlich das einzige, von dem es in dieser Gegend mehr als genug gab. Polt durchquerte den kleinen Vorraum mit dem häßlich glänzenden dunkelgrünen Schutzanstrich, und als er den Kollegen vom Journaldienst grüßte, antwortete dieser brummig, ohne den Kopf zu heben. »Der Albert Hahn ist also tot«, fügte er ohne Fragezeichen hinzu, und Polt sagte: »Ja. Gärgas.« In einem der zwei Kanzleiräume suchte er seufzend nach einer freien Arbeitsfläche. Früher hatte er seinen eigenen Schreibtisch gehabt, ein fest umrissenes, persönliches Revier, in
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