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Pompeji

Pompeji

Titel: Pompeji Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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wurde Platz gemacht, und Alexion und Attilius legten Plinius auf den Sand unmittelbar neben dem Eingang. Er bat schwach um etwas Wasser, und Alexion nahm einem der Sklaven seine Kürbisflasche ab und hielt sie ihm an die Lippen. Er schluckte ein paar Tropfen, hustete und drehte sich auf die Seite. Alexion machte sanft das Kissen los und legte es unter seinen Kopf. Dann schaute er Attilius an, aber der zuckte nur die Achseln. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er hielt es für unwahrscheinlich, dass der alte Mann noch viel mehr von alledem überleben konnte.
    Attilius wandte sich ab und schaute ins Innere des Zeltes. Die Leute waren zusammengekeilt und kaum imstande, sich zu bewegen. Das Gewicht des Bimssteins ließ die Plane einsacken, und von Zeit zu Zeit befreiten ein paar Seesoldaten sie davon, indem sie sie mit den Enden ihrer Ruder anhoben und das Gestein herunterkippten. Kinder weinten. Ein Junge schluchzte nach seiner Mutter. Davon abgesehen sprach oder rief niemand. Attilius versuchte auszurechnen, wie spät es war – er vermutete, mitten in der Nacht, aber selbst wenn es bereits dämmern sollte, ließ sich das unmöglich feststellen –, und fragte sich, wie lange sie das durchstehen konnten. Früher oder später würden Hunger oder Durst oder der Druck des sich zu beiden Seiten ihres Zeltes anhäufenden Bimssteins sie zwingen, den Strand zu verlassen. Und was dann? Langsames Ersticken in Gestein? Ein länger hinausgezögerter und ausgeklügelterer Tod als alles, was sich Menschen je in der Arena hatten einfallen lassen? So viel zu Plinius' Überzeugung, dass die Natur eine gnädige Gottheit war!
    Er löste das Kissen von seinem schwitzenden Kopf, und erst als seine Ohren wieder frei waren, hörte er, wie jemand seinen Namen krächzte. In der überfüllten Fast-Dunkelheit konnte er anfangs nicht erkennen, wer es war, und selbst als der Mann sich seinen Weg zu ihm bahnte, erkannte er ihn nicht, weil er aus Stein zu bestehen schien. Sein Gesicht war kalkweiß von Staub, sein Haar stand wie das eines Medusenhaupts steif vom Kopf ab. Erst als er seinen Namen nannte – »Ich bin's, Lucius Popidius« –, begriff er, dass er einen der Ädile von Pompeji vor sich hatte.
    Attilius ergriff seinen Arm. »Corelia? Ist sie bei dir?«
    »Meine Mutter – sie ist auf der Straße zusammengebrochen.« Popidius weinte. »Ich konnte sie nicht länger tragen. Ich musste sie verlassen.«
    Attilius schüttelte ihn. »Wo ist Corelia?«
    Popidius' Augen waren schwarze Löcher in der Maske seines Gesichts. Er sah aus wie eines der Porträts seiner Vorfahren an der Wand seines Hauses. Er schluckte schwer.
    »Du Feigling«, sagte Attilius.
    »Ich habe versucht, sie mitzunehmen«, winselte Popidius. »Aber dieser Wahnsinnige hatte sie in ihrem Zimmer eingeperrt.«
    »Also hast du sie im Stich gelassen?«
    »Was hätte ich sonst tun sollen? Er wollte uns alle einsperren!« Popidius krallte die Finger in Attilius' Tunika. »Nimm mich mit. Das ist doch Plinius da drüben, nicht wahr? Und ihr habt ein Schiff? Hab Erbarmen – allein komme ich nicht weiter …«
    Attilius stieß ihn beiseite und bahnte sich einen Weg zum Eingang des Zelts. Der Gesteinshagel hatte das Feuer gelöscht, und jetzt, da es verschwunden war, war die Dunkelheit am Strand nicht einmal die der Nacht, sondern die eines geschlossenen Raumes. Er versuchte, in Richtung Pompeji zu schauen. Wer konnte sagen, ob nicht die ganze Welt zugrunde ging? Dass nicht genau die Kraft, die das Universum zusammenhielt – der logos, wie die Philosophen ihn nannten –, in die Brüche ging? Er fiel auf die Knie, vergrub seine Hände im Sand und wusste in diesem Moment, noch während die Körner durch seine Finger rieselten, dass alles ausgelöscht werden würde – er selbst, Plinius, Corelia, die Bibliothek in Herculaneum, die Flotte, die Städte rings um den Golf, der Aquädukt, Rom, Caesar, alles, was je gelebt hatte oder gebaut worden war. Von alledem würde nichts übrig bleiben als Unmengen von Gestein und eine endlos hämmernde See. Keiner von ihnen würde auch nur einen Fußabdruck hinterlassen; sie würden nicht einmal eine Erinnerung hinterlassen. Er würde wie die anderen hier am Strand sterben, und ihre Knochen würden zu Staub zermalmt.
    Aber der Berg war noch nicht fertig mit ihnen. Er hörte eine Frau schreien und hob den Blick. Schwach und wie ein Wunder, weit weg und dennoch an Intensität zunehmend, sah er einen Feuerkranz am Himmel.
     
    VENUS
     
    25.

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