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Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland

Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland

Titel: Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Weber
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ihren Hals einschnitt, würde sich für immer auf seiner Netzhaut einbrennen.
    Stifter taumelte rückwärts aus dem Kellerraum, er sah aus den Augenwinkeln, dass Thalmeier sein Handy aus der Hosentasche holte, wartete aber nicht ab, dass dieser die Polizei rief. Stattdessen lief er nach Luft schnappend die Treppe hinauf, durchquerte den dunklen Flur und das Wohnzimmer. Er stürzte an die Terrassentür, schob sie auf und holte in der Kühle der sternenklaren Nacht tief Luft. Er fühlte sich, als sei ihm, ebenso wie der Toten, die Kehle abgeschnürt. Schnaufend lief er ein paar Schritte über die Steinplatten der Terrasse zur Rasenkante und konzentrierte sich auf seinen Atem. Er musste seinen Kreislauf wieder unter Kontrolle kriegen. Johannes Stifter atmete tief und langsam. Währenddessen starrte er angestrengt zum Sternenhimmel hinauf und zwang sich, die Sternbilder zu studieren, die er von seinem Vater beigebrachtbekommen hatte. Er hörte das Singen eines Nachtvogels, roch die Feuchtigkeit des Gartens und versuchte, das Bild der Toten aus seinem Kopf zu vertreiben. Aber es stand stets wieder ganz plastisch vor seinem geistigen Auge. Jetzt gaben seine Beine nach, und Stifter ließ sich ins nachtfeuchte Gras sinken, bevor ihn die Übelkeit übermannen konnte. Er warf einen Blick zurück ins dunkle Haus, wo er am Ende des Flures das Licht erblickte und ein Stück der Kellertür. Plötzlich wurde sein Blick abgelenkt, und er bemerkte, dass auf der Terrasse, bei der schweren verwitterten Teakholzsitzgruppe, etwas Helles am Boden lag. Er zwang sich, genauer hinzusehen, und erkannte, dass es sich um Schachteln handelte. Auf allen vieren robbte er sich näher, unfähig, auf seinen zwei Beinen zu stehen, und registrierte, dass es sich um Medikamentenschachteln handelte. Neben zwei Pappschachteln lagen die Plastikverpackungen, leer, alle Tabletten waren herausgedrückt worden. Und inmitten der Schachteln glänzte eine helle Glasflasche. Eine Schnapsflasche. Enzian. Jetzt hob Stifter den Blick und bemerkte in der hintersten Ecke der Sitzgruppe die Silhouette eines Menschen, der dort saß. Unbeweglich. Die Arme hingen zur Seite herab, der Kopf war auf die Brust gesunken. Er hatte dieselbe Person schon einmal in dieser Position gefunden.
    »Annette?«, fragte er furchtsam in die Stille hinein, wohl wissend, dass es sich um die Tochter der Toten im Keller handelte. Und sie schien nicht lebendiger als ihre Mutter.
    *
    Er hatte sich keine Beruhigungsspritze geben lassen. Der arme Junge hatte eine gebraucht, der Anblick von Annette hatteihm den Rest gegeben. Thalmeier hatte Stifters Schrei bis in den Kellerraum gehört und war sofort hinausgestürmt. Stifters Schrei war verebbt, bevor er die Terrasse erreicht hatte, da war der Briefträger schon dabei gewesen, Annette von Rechlin den Puls zu fühlen. Dabei hatten seine Finger so gezittert, dass er kaum dazu in der Lage war. Gemeinsam hatten sie die Frau von ihrem Sitz heruntergezerrt und auf den Boden gelegt. Während Stifter versucht hatte, festzustellen, ob die Frau noch lebte, hatte er erneut die Polizei angerufen und von der veränderten Lage informiert. Die Beamten sollten sich schleunigst mit einem weiteren Notarzt zum Tatort begeben.
    Danach war alles Routine. Die Beamten kamen, der Tatort wurde abgesperrt, Annette von Rechlin von den Sanitätern versorgt und in eine Klinik transportiert. Stifter hatte noch auf der Terrasse Erste Hilfe geleistet, nachdem er festgestellt hatte, dass die Frau bewusstlos und nicht tot war.
    Jetzt saß der junge Mann mit einer Decke über dem Körper und einem heißen Tee im Sanka, während er, Thalmeier, nahe der Absperrung stand und aufmerksam die Betriebsamkeit der Kollegen verfolgte. Er musste sich nicht beruhigen, ganz im Gegenteil. Er spürte, wie sein Körper vom Adrenalin überschwemmt wurde, und er wusste, dass er dieses Gefühl lange vermisst hatte. Die Anspannung, die ihn überfiel, wenn er an einem frischen Tatort war, das klare Bewusstsein, mit dem er sich alles einprägte, was ihn umgab, alle Eindrücke, die er in seinem auf Hochtouren arbeitenden Gehirn abspeicherte – all das war durch nichts zu ersetzen. Er war ein Bulle, durch und durch. Und es schmerzte ihn zutiefst, dass er von den aufgeregten Lohdorfer Kollegen vor die Absperrung gedrängt wurde wie ein lästiger Zeuge. Aber er hatte nunmal keinen Polizeiausweis mehr, er war und blieb Rentner. Und es wäre ihm zu peinlich gewesen, die jungen Beamten darüber zu belehren,

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