Träume(h)r (German Edition)
Nur noch ein bisschen, noch eine Stunde bleibst du hier sitzen und lernst den Scheiß auswendig. Hat doch bisher auch immer funktioniert, dachte sich Marc und kämpfte weitere zwei Stunden mit dem Skript.
So hatte er sich das niemals vorgestellt. Morgen würde er zur letzten Klausur seines Studiums aufbrechen und den Raum nach Ablauf der Zeit mit genauso viel Interesse und Enthusiasmus wie am Anfang verlassen.
Der Anfang, lächelte Marc, wobei er sich an seine damalige Illusion »Interesse müsse man im Studium erst aufbauen« erinnerte.
Er dachte daran zurück wie er Ole erklärt hatte, dass sie lediglich am Ball bleiben mussten.
»Keine Sorge! Mit dem Interesse im Studium ist es wie mit einem Graphen im Koordinatensystem, der eine exponentielle Steigung hat.«
Ole schaute ihn mit einem Fragezeichen im Gesicht an.
»Oh Mann, Ole. Du hast auch nichts mehr aus dem Abi im Kopf, oder? Das heisst, dass dein Graph mit der Zeit in einem schönen Bogen nach oben verläuft und dein Interesse jedes Semester steigen wird«, sagte Marc und zwinkerte seinem Kumpel überlegen zu. »Wir müssen also nur durchhalten und am Ende zahlt es sich für uns aus!«
Skepsis konnte man damals nicht aus Marcs Worten heraushören. Heute war er sich jedoch im Klaren, dass sein Graph gar keine Steigung besaß und anstatt die Form eines schönen Bogens zu haben, einfach nur waagerecht verlief. Bleibt also nicht mehr viel Zeit für eine spontane Kursänderung, stellte Marc fest, als er beim Schwelgen in Erinnerungen eine Ecke seines Skripts glatt strich. Daraufhin versuchte er sich wieder auf dessen Inhalt zu fokussieren und die Vergangenheit in seinem Hinterkopf ruhen zu lassen.
Nach nur fünf Minuten lenkte ihn ein erneuter Gedanke ab. Ein winziges Fünkchen, das sich an Definitionen und Erörterungen vorbeischleichen konnte und das Ruder von Marcs Gedankenwelt vollständig übernommen hatte. Dabei spielte er, der große Master of Desaster, Marc Fröhlich die Hauptrolle. Sein Machtzepter in der Luft schwingend hielt er die Master-Urkunde in der freien Hand und blickte von seinem Podest auf die kniende Masse, die Nichtstudierten dieser Welt, herab und klopfte sich mental auf die eigene Schulter. Ein selbstzufriedenes Lächeln formte sich in seinem Gesicht.
»Marc, kommst du zum Essen herunter?«
Er zuckte zusammen. Marc hatte gar nicht gehört wie seine Mutter hereingekommen war. Sie hatte sich mit den Jahren zu einer perfekten Schleicherin entwickelt. Ein Cyborg, halb Haushaltsgerät und halb Mensch.
Ja, richtig. Es war seine Mutter. Sicher gab es coolere Antworten für einen fünfundzwanzigjährigen Studenten, wenn er in einer Bar von einer neuen Bekanntschaft nach seinem aktuellen Wohnort gefragt wurde, aber so war es halt. Er war zufrieden und diese Zweck-WG im guten, alten Elternhaus funktionierte bisher makellos. Zuhause gab es pünktlich Essen, die Wäsche wurde gewaschen und es war ordentlicher als in jedem Hotel, das er bisher betreten hatte. Die Welt war wie stehen geblieben. Sie war in Ordnung. Der Vater guckte nach einem langen Arbeitstag lächelnd den Fernseher an und die Mutter guckte mit fertigem Braten im Ofen lächelnd den Vater an, wenn er abends zur Tür hereinkam. Sie lebten ihren kleinen Traum.
»Klar, komme jetzt!«, antwortete Marc. Die Mutter lächelte und schloss die Tür geräuschlos hinter sich. Marc klappte die Unterlagen mit der Aufschrift »Management VI« zu und unterdrückte den Würgereiz, der durch das bloße Ansehen der Überschrift in ihm ausgelöst wurde.
Ungeachtet der Tatsache, dass ihn sein Studium nicht zu interessieren schien, wurde Marc gegen Ende seiner akademischen Ausbildung immer klarer, dass er kein von acht bis zwanzig Uhr arbeitender Manager wie die meisten seiner Mitstudenten, werden wollte. Nein, Marc wollte nicht im Geringsten einer dieser monotonen Anzugaffen werden, die durch zahlreiche Darmöffnungen kriechen mussten, um kurz vor dem Burnout eine Führungsposition im mittleren Management zu ergattern.
Er wollte viel lieber Rockstar, Schauspieler oder sonst jemand werden, aber bitte kein Langweiler wie die anderen. Wie sein Vater und dessen Vater und dessen Vater und und und. Ganz stolz erzählte Papa Fröhlich auf kleinen, spießbürgerlichen Gartenpartys den Nachbarn von Marcs hervorragenden Zensuren und zahlreichen Möglichkeiten, die sich daraus für ihn ergeben würden. Dabei fing Marc, durch die Euphorie seines Vaters angesteckt, beinahe selbst an dessen Illusionen zu
Weitere Kostenlose Bücher