Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
1.
Stifter bremste so abrupt, dass der Hinterreifen seines schwer beladenen Rades ausriss, der Kies zur Seite spritzte und eine lange Bremsspur den darunterliegenden Waldboden freilegte. Mit dem linken Bein stützte er sich ab, während er mit beiden Händen den Lenker umfasste und dadurch vermied, dass sein Rad mit den schweren Posttaschen zur Seite kippte. Dann klappte Stifter den stabilen Ständer herunter und ging ein paar Schritte zurück zu dem Krötenpärchen. Das dicke Weibchen kauerte fest an den Boden gepresst auf dem Kies und pumpte schwer. Das deutlich kleinere Männchen klammerte sich an ihr fest und wirkte bereits vertrocknet, so welk war die pockige Haut auf seinem Rücken. Stifter sah das Paar einige Minuten lang an, um zu prüfen, ob sie imstande waren, sich selbst aus der sengenden Sonne zu retten, entschied dann aber, dass die Tiere nur noch eines tun konnten: ergeben auf den Tod warten. Er nahm die fest miteinander verbundenen Kröten hoch, setzte sie auf seinen rechten Handteller und schützte sie mit den Fingern seiner Linken. Dann ging er in den schattigen Wald hinein. Er wusste, dass der kleine Weiher nur wenige Meter von der Stelle, an der die Kröten das Wandern aufgegeben hatten, entfernt war. Kein Weg führte zu dem eingewachsenen Tümpel hin, der sich tief ins Unterholz des Mischwaldes duckte. Hohe, dünne Gräser umgaben ihn, so dass es fast unmöglich auszumachen war,wo sich die Ränder des Wassers befanden. Unter den Schuhen des Postboten schmatzte der Morast. Als der dunkelbraune Schlamm ihm fast bis zu den Knöcheln reichte, bog Stifter die Gräser auseinander und bückte sich. Die Kröten hatten steif auf seiner Hand ausgeharrt, hatten keine Anstalten gemacht, davonzuspringen. Dafür waren sie zu erschöpft, er hatte es am Herzschlag des Weibchens, der nur noch ganz schwach gewesen war, durch die kühle glatte Haut spüren können. Aber sie lebten noch. Denn als er in der Hocke die rechte Hand ausstreckte, sprangen die Kröten gleichzeitig zu beiden Seiten von seiner Hand in das schwarze Moorwasser. Stifter betrachtete die dunklen Ringe, die das Wasser um die Einsprungstelle der Kröten bildete. Still und ruhig schwappten sie an seine Fußspitzen. Dann tauchten die Augen des Weibchens auf und fixierten ihn. »Schönen Tag noch«, sagte Stifter und lächelte.
Er ging zurück zu seinem Fahrrad und setzte seine Runde fort. Obwohl er die Kröten vor dem sicheren Hitzetod bewahrt hatte, war er beunruhigt über ihr Verhalten. Die Zeit der Wanderungen war vorbei. Es war Mitte September. In dieser Jahreszeit sollten die Kröten unter den feuchten Blättern des Waldes liegen, eingegraben in den Waldboden, und sich auf den langen Winter vorbereiten. Die Paarung und Wanderung waren vorbei. Stifter wusste das, weil Rubina Lanz, die jüngste Tochter seiner Vermieter, im Frühjahr jeden Abend losgezogen war, um mit Taschenlampe, Handschuhen und Eimer Kröten zu retten. Sie hatte sie über die stark befahrene Straße getragen, die den Saum des Waldes vom Weiher trennte und für die Kröten auf ihrem Weg in ihre Laichgewässer eine tödliche Gefahr darstellte. Stolz hatte Rubina bei ihrer Rückkehr die Erfolgszahlen präsentiert und sich vonihren älteren Geschwistern für ihr naturschützerisches Engagement aufziehen lassen müssen. Stifter würde Rubina heute Abend fragen, was es damit auf sich hatte, dass ein Erdkrötenpärchen im späten Sommer auf Laichwanderung ging. Ein Irrtum der Natur? Ein trauriger Versuch des Paares, eine zweite Laichzeit einzuläuten? Oder vielleicht einfach nur Degeneration durch Umweltgifte.
Auf dem schönen sonnigen Sommertag lag plötzlich ein Schatten. Stifter bog hinter den Sportplätzen des Schulzentrums in die Chamisso-Straße ein und begann seine Tour.
Er hatte es sich in der Zeit, in der er nun in Lohdorf, Oberbayern, wohnte, angewöhnt, auf dem Weg vom Postamt bis zum Ausgangspunkt seiner Tour den Pfad durch das Wäldchen zu nehmen. Er hätte ebenso gut quer durch das Villenviertel fahren können, durch die kleinen gebogenen Straßen, die an hochherrschaftlichen Bauten vorbeiführten. Auch das wäre ein schöner Weg ohne allzu viel Autoverkehr gewesen. Aber Stifter liebte den Schlenker durch den Wald. Hier begegnete er nur selten einem Menschen, manchmal einem Spaziergänger, aber die beruhigende Atmosphäre von Vogelstimmen, Blätterrauschen, dem Geruch des immer feuchten Unterholzes und dem Geräusch, das die Räder auf dem Kies erzeugten, versetzte ihn
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