Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
Steingutbecher zurück zu der freundlichen Verkäuferin, die ihn bereits mit Namen kannte. Dann schwang er sich auf sein Postfahrrad und setzte seine Tour fort. Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel, und Stifterüberlegte, was er mit dem Rest des schönen Tages anfangen sollte, der versprach, glutheiß zu werden. Er hatte sich angewöhnt, zu einem der vielen umliegenden Seen zu fahren. Mit seinem Privatrad, auch dies eine neue bayerische Errungenschaft, oder der S-Bahn, die bequem zu allen Seen des bayerischen Oberlandes führte. Oder er würde im Wald spazieren gehen. Hinter Lohdorf, das an den Landkreis der Stadt München grenzte, war die Stadt definitiv zu Ende. Hier begannen die weitläufigen Wälder, die, wenn man ihren Pfaden folgte, bis zu den Ausläufern der Alpen reichten, sogar hinüber nach Österreich. So weit war Stifter noch nicht gelaufen, aber er konnte sich vorstellen, eines Tages einfach loszugehen, mit Wanderstock und einem Rucksack und über die Alpen nach Italien zu wandern. Dort würde er sich in Bozen oder Meran ein Hotelzimmer nehmen, drei Tage schlafen und mit dem Zug über den Brenner wieder zurückfahren. Ein Traum. Eines Tages würde er ihn verwirklichen.
Am Grundstück der Damen von Rechlin stellte Stifter sein Rad neben den Holzzaun und holte das eigenhändige Einschreiben für Annette von Rechlin aus der gelben Tasche. Es war vom Amtsgericht, und in der Regel verhieß diese Art von Einschreiben nichts Gutes. Jedenfalls nicht bei Menschen wie den beiden Frauen, die hier wohnten. Mutter und Tochter, adlig und augenscheinlich von der Welt vergessen. Die von Rechlins bewohnten eine große Villa, die vermutlich aus den späten siebziger Jahren stammte, im Landhausstil errichtet war und, ebenso wie das große Grundstück, auf einigen Reichtum schließen ließ. Hier oben auf dem Hügel, in exklusiver Villenlage, wären einem Investor die zweitausend Quadratmeter Grund mit altem Baumbestand Millionen wert. Das Haus der von Rechlins würde abgerissen werden, es warein großer unzeitgemäßer Klotz. Zwei ausladende Etagen mit rundumlaufenden Balkons, einer großen Terrasse mit wuchtigem Außenkamin und ein stillgelegter Pool im Garten – diese schlafende Immobilie würde kein neuer Bewohner mehr wachküssen. Es schien, als hätten die beiden Damen, Annette, die Tochter, und Gudrun, die Mutter, selbst vergessen, dass sie dieses Haus bewohnten. Die steinerne Terrasse schimmerte grünlich von dem sie überwuchernden Moos. Das Laub der großen Eichen und Kastanien im Garten wurde nicht gerecht, sondern vergammelte auf dem verkarstenden Rasen und verstopfte die Regenrinnen. Die wuchtige Sitzgarnitur aus Tropenholz auf der Terrasse wurde weder genutzt noch abgedeckt, sondern war der Witterung schutzlos ausgeliefert und verblasste, das Holz war grau und rissig. Die Klingeln klemmten, das Gartentor quietschte, und zwischen den Steinen vor der Garage wuchs das Unkraut meterhoch. Die Klingelschilder am Pfeiler des Gartentores wiesen drei Bewohner aus: neben Gudrun und Annette von Rechlin auch noch Volkmar von Rechlin. Ob es sich um den Ehemann der Mutter oder Tochter handelte, wusste Johannes Stifter nicht, aber er wusste, dass es den einzigen männlichen Bewohner hier nicht mehr geben konnte. Er hatte in dem halben Jahr seit seiner Arbeitsaufnahme in Lohdorf keine einzige Sendung für ihn gehabt. Und das stark vernachlässigte Anwesen ließ nicht darauf schließen, dass es hier einen Mann im Haus gab, der sich verantwortlich für die Pflege desselben gefühlt hätte. Gudrun von Rechlin war zu alt, um diese nötigen Arbeiten zu übernehmen, Stifter schätzte die rüstige Dame mit den langen schlohweißen Haaren auf über achtzig. Ihre Tochter Annette, vermutlich um die fünfzig, stand mit ihrer gepflegten Erscheinung in starkem Kontrast zu der Verwahrlosung.Wenn er sie zu Gesicht bekam, trug sie stets Weiß, mit ihren hellen Baumwollhosen und den weißen Slippern hatte sie die Ausstrahlung einer Ärztin. Die Perlenkette um ihren Hals und die goldenen Ohrringe verliehen ihr eine dezent luxuriöse Note. Allerdings roch sie manchmal überaus stark nach Pfefferminz und Eau de Toilette.
Er klopfte mit harter Faust an die schwere Holztür. Niemand öffnete, auch nicht, nachdem Stifter etwas heftiger nachgelegt hatte. Er drehte auf dem Absatz um und wollte soeben eine Nachricht für Annette hinterlassen, dass sie sich das Einschreiben auf dem Postamt abholen könne, als sich oben, im Dachgeschoss, ein kleines
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