Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
Fenster öffnete. Gudrun von Rechlin steckte den Kopf durch das Fenster, und ihre weißen Haare fielen herab wie die einer alt gewordenen Rapunzel, die kein Prinz jemals aus ihrem Turm gerettet hatte. Misstrauisch rief sie Stifter an und fragte ihn unfreundlich, was er wolle. Johannes Stifter schwenkte das Einschreiben, und als Antwort knallte die alte Dame das Fenster kommentarlos zu. Unschlüssig, was nun passieren würde, harrte Stifter an Ort und Stelle aus, und tatsächlich öffnete sich die große Holztür kurz darauf. Eine große graue Strickjacke hatte sich die Alte um den schmalen Körper gewickelt, was ihre Zerbrechlichkeit eher unterstrich denn verhüllte.
»Geben Sie her!«, ungeduldig streckte Gudrun von Rechlin die altersfleckige Hand nach dem Einschreiben aus.
»Tut mir leid, Frau von Rechlin«, sagte Stifter, »aber das ist ein eigenhändiges Einschreiben, das kann nur Ihre Tochter in Empfang nehmen.«
»Schmarrn«, entgegnete die Alte und blickte ihn missbilligend an. Sie hatte klare blaue Augen und ein feingeschnittenes Gesicht, das nicht zu ihrem harschen Ton und der ruppigenUmgangsweise zu passen schien. Man konnte ihr ihre adlige Herkunft ansehen, aber auch Zeichen von Verwahrlosung entdecken. Gesicht, Haare und Hände waren sauber und gepflegt, ihr Rücken durchgedrückt. Aber die Kleidung war verschlissen, die graue Strickjacke, Cashmere vielleicht, war aus der Form geraten, ausgebeult, mit Fusseln übersät. Die ledernen Hausschlappen waren an der Seite aufgeplatzt, und die Hose, die sie unter dem langen Strickschlauch trug, sah aus wie die eines Mannes. Die Hosenbeine waren hochgekrempelt und gaben den Blick frei auf weiße, magere Waden. Erneut streckte die Alte ihre Hand aus und forderte Stifter damit wortlos auf, ihr das Schreiben an ihre Tochter auszuhändigen, aber Stifter blieb hart. Er sah ihr in die Augen und schüttelte den Kopf. Den Umschlag umklammerte er hartnäckig, aber er war es, der den Blick zuerst abwandte. Trotzdem hatte die Alte verstanden, dass Widerstand zwecklos war, und kramte aus der tiefen Tasche ihrer Jacke einen großen Schlüsselbund hervor. Damit ging sie zu einer zweiten Eingangstür, die sich ein paar Meter neben der schweren Holztür befand und vermutlich zu einer Einliegerwohnung führte. Dort klopfte sie der Form halber zweimal an die Tür, während sie gleichzeitig mit dem Schlüssel aufsperrte. Sie warf Stifter einen Blick über die Schulter zu, der ihn auf Abstand halten sollte. Aber Stifter war neugierig geworden, und kaum hatte die Alte die Tür geöffnet und war eingetreten, folgte er ihr auf dem Fuß. Gudrun von Rechlin verschwand in dem dunklen Flur und rief barsch nach ihrer Tochter. Der Flur war dämmrig und kalt, die Wand mit Kork tapeziert, auf dem Boden lag ein ausgetretener Kokosläufer. Es roch leicht modrig, die Luft war kühl und abgestanden zugleich. Die Alte vor ihm stieß die Türen, die vom Flur wegführten, auf undblickte in die Räume. Stifter wusste, dass er hier nichts zu suchen hatte, dass er das Haus nicht betreten durfte und der Frau vor ihm nicht folgen sollte. Aber es lag eine Spannung in der Luft, die mit den Händen zu greifen war, es war die Ankündigung von etwas Ungeheuerlichem, etwas Ungutem. Gudrun von Rechlin strahlte die unerschütterliche Gewissheit aus, dass sich ihre Tochter im Haus befand, und wenn diese nicht auf das Klopfen und Rufen reagierte, ließ das nur den Schluss zu, dass etwas geschehen war. Nun blieb die Alte stumm vor einem Zimmer stehen. Ihre Schultern sackten nach unten. Sie hatte Stifter noch immer nicht bemerkt und betrat den vor ihr liegenden Raum. Stifter folgte ihr. Sein Blick fiel auf den Paravent aus hellem gerafftem Stoff. Das hier war das Schlafzimmer, und hinter dem Paravent befand sich offenbar das Bett von Annette von Rechlin. Jemand lag darauf, denn von der Wade abwärts sah man die Beine der Person. Ein Bein, in weißer Hose und mit weißem Schuh, lag noch auf der Matratze. Das andere war seitlich hinuntergerutscht, der Schuh lag neben dem nackten Fuß. Stifter folgte Gudrun von Rechlin hinter den Paravent und sah, was diese sah. Annette von Rechlins Oberkörper lehnte an ein paar großen Kissen, ihr welliges Blondhaar fiel ihr über die Schultern, ihr Mund stand offen. Sie versuchte, die Lider zu heben, aber es gelang ihr nicht, sie flatterten nur träge. Als wolle sie sich entschuldigen, griff sich die Frau mit schwerer Hand an ihre Perlenkette, mitten in das Erbrochene, das sich
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