Privatklinik
angehört und fragte sich nun, was das alles sollte.
Pfarrer Merckel sah zu dem großen, schlanken, eleganten Mann auf, dessen größtes Kapital sein feinnerviges Fingerspitzengefühl war. Es war, als habe er dort eine Sendeanlage, die die feinsten Reaktionen bei einer Operation registrierte und umsetzte in eine Gegenaktion. Man sagte Dr. Linden nach, daß er an einem Nerv im Gehirn fühlen konnte, wann er dachte. Das war natürlich eine Sage, aber man traute es ihm zu.
»Ich möchte helfen, Doktor«, sagte Pfarrer Merckel. »Ich werde mir Peter Kaul selbst vornehmen. Ein Gespräch unter Männern hilft immer. Sie aber sollen der Frau helfen … und dem Kind, der kleinen Gundula. Ich vermute da Schreckliches.«
Dr. Linden sah kurz auf die Notizen, die er sich bei der Erzählung des Pfarrers gemacht hatte.
»Das Kind ist in Volltrunkenheit gezeugt worden?«
»Ja. Er hat seine Frau regelrecht vergewaltigt. Sie wollte nicht. In seiner Trunkenheit hat er sich wie ein Tier benommen.« Pfarrer Merckel strich sich über die silbernen Haare. »Dann kam das Kind … und nun ist Gundula ein Jahr alt, kann noch nicht sitzen, von Laufen gar nicht zu reden, es lallt nur, spielt noch mit Klötzchen und reagiert schwach auf äußere Wahrnehmungen. Nur wenn es Essen riecht, kräht es. Ich bitte Sie, sehen Sie sich das Kind an, Doktor. Ich bezahle es.«
»Über den letzten Satz müßte ich beleidigt sein, Herr Pfarrer. Ich setzte voraus, daß ein Diener Gottes nicht für etwas Sinnloses bittet. Kann das Kind zu mir hinaus in die Klinik kommen?«
»Ich werde es selbst hinbringen, Doktor.« Pfarrer Merckel erhob sich. »Wie soll ich Ihnen danken?«
»Gar nicht.« Dr. Linden winkte ab, als Pfarrer Merckel noch etwas sagen wollte. »Lassen Sie mich so eigennützig sein, zu denken, daß vielleicht ich Sie eines Tages brauche, Herr Pfarrer. Dann können wir aufrechnen.«
»So etwas kann schneller kommen, als man denkt.«
»Beschwören wir nichts herauf!« Dr. Linden lachte und klappte seinen Terminkalender zu. »Sagen wir: Montag schon? Um zehn Uhr? Um elf habe ich einen Tumor, der bestimmt vier Stunden dauert. Vorher kann ich nicht, da muß ich ein Gutachten beim Landgericht abgeben. Also um zehn am Montag?«
»Abgemacht. Und wenn … wenn meine Ahnungen stimmen?«
Dr. Linden hob die Schultern. »Ich sagte es schon – für uns ist das ein Alltagsschicksal. Ich könnte Ihnen da ganz andere Fälle vorführen.«
Pfarrer Merckel verließ die Wohnung Dr. Lindens mit gemischten Gefühlen. Hier kann Hilfe zur Zerstörung werden, dachte er. Aber – bei Gott – wie kann man helfen ohne Wahrheit?
Am Sonntag arbeitete Peter Kaul wirklich auf dem Neubau und verdiente dreißig Mark. Der Bauherr bettelte ihn an, doch jeden Tag nach der Arbeit auf ein oder zwei Stunden zu kommen, und bot ihm mehr, als Peter Kaul verlangt hätte. Er sagte zu, kassierte seine dreißig Mark und widerstand tapfer der Versuchung, als Abschluß des Tages im ›Hammerstübchen‹ ein paar Gläschen zu sich zu nehmen. Verdient hätte ich es, dachte er, als er mit abgewandtem Gesicht an der Wirtschaft vorbeiging. Jeden Tag zwei Stunden nach der Schicht zusätzlich, und das über ein paar Wochen hin … Susanne sollte mir wirklich einen erlauben.
Ab Montag ging alles wieder seinen gewohnten Lauf. Um Viertel nach sechs morgens fuhr er hinein nach Essen, um sieben Uhr abends (mit einer Überstunde) kam er wieder heim, müde, abgearbeitet, hungrig und durstig. Er trank sein Bier, Susanne trug das Essen auf, man sprach wie immer, erholte sich beim Fernsehen. Und wartete auf den Freitag, diesen verteufelten Freitag, der jede Woche Arbeit abschloß und die Hölle aufriß.
Von dem Besuch der Klinik Dr. Lindens hatte Susanne noch nichts erzählt. Dr. Linden und auch der Pfarrer hatten ihr geraten, vorerst darüber zu schweigen. Warum, das wußte sie nicht, aber wenn es zwei so hohe Herren sagten, mußte es einen Grund haben.
Die Untersuchung in der Klinik im Ruhrtal war gründlich. Dr. Linden und ein Oberarzt nahmen die kleine Gundula in Empfang und rollten sie in dem alten, abgeschabten Kinderwagen über einen langen Gang weg. Eine Tür schloß sich lautlos hinter ihnen. Susanne umkrallte die Lehne ihres Sessels.
»Was tun sie mit ihr?« fragte sie leise. »Warum kann ich nicht dabei sein? Sie tun ihr doch nicht weh?«
»Keine Angst.« Pfarrer Merckel legte beruhigend seine Hand auf ihren zuckenden Arm. »Doktor Linden ist ein international berühmter Mann. Gundula
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