Prophezeiung der Seraphim
breitete sich in ihrem Kopf aus. Alles Schwere fiel von ihr ab und sie lachte leise. Es tat gut, die Kleider abzustreifen.
Nun zog Mathilde eine kleine Phiole aus ihrer Tasche und kniete vor Julie nieder.
»Dieser Extrakt wird dir helfen, dich auf deine Aufgabe zu konzentrieren. Noch eine letzte Warnung: Du darfst auf keinen Fall von der Lethe trinken, sonst vergisst du, wer du bist. Und dann kann selbst ich dir nicht mehr helfen.«
Julie zögerte, obwohl sie sich danach sehnte, das Geheimnis des Teichs zu erfahren. »Ist das ein Gift?«
»Nicht, wenn man die rechte Dosis kennt.« Mathilde träufelte auf Julies Zunge zwei Tropfen einer süßen Essenz, die in ihrer Mundhöhle ein leicht pelziges Gefühl hervorrief. Dann stimmte die Einsiedlerin einen leisen, wortlosen Gesang an, in dessen Tönen Julies Zeitgefühl sich verlor. Sie wusste nicht, ob Stunden oder Minuten vergangen waren, als sie die Augen wieder öffnete. Sie befand sich nicht länger in der Pflanzenkuppel, oder zumindest nahm sie deren Wände nicht mehr wahr, und um sie herum war es hell, ohne dass sie hätte sagen können, woher das Licht kam. Auch Mathilde konnte sie nicht mehr sehen, obwohl sie immer noch ihre Stimme hörte, und darum hatte sie keine Angst. Ohne sich zu bewegen, flog sie auf den Teich zu und schwebte über seine Ober fläche, die immer noch wie poliert wirkte. Julie wunderte sich über nichts. Sie befand sich in einem eigenartigen Zustand zwischen Wachen und Schlaf, der alles, was geschah, als selbstverständlich hinnahm. Langsam beugte sie sich nach unten, senkte den Arm und tauchte eine Hand in die Lethe. Die silbergraue Flüssigkeit kroch ihren Arm hinauf und zog sie allmählich in den See hinein. Ein letztes Mal schnappte Julie nach Luft, dann versank sie.
Zuerst sah sie nichts. Lethe schmiegte sich um sie, zähflüssig wie geschmolzenes Silber. Julie fühlte den Drang, wieder an die Oberfläche zu schwimmen und zu atmen, doch sie zwang sich, ihm nicht nachzugeben. Sie dachte an den Herzkristall und tauchte tiefer. Nach wenigen Stößen erreichte sie eine lichtere Schicht. Nun nahm sie Bewegungen um sich herum wahr, ohne dass sie sehen konnte, wodurch sie ausgelöst wurden. Einige Male fühlte sie, dass etwas sie streifte wie zarte Schleier, und nach einiger Zeit konnte sie ein Flüstern hören, vielstimmig, raunend und von Traurigkeit erfüllt.
Was gesagt wurde, blieb unverständlich, doch die Stimmen lockten Julie, sich mit ihnen treiben zu lassen. Es fiel ihr schwer, sich der Versuchung zu verschließen. Ihre Schwimmzüge wurden unentschlossener, ihre Lunge drückte gegen ihr Brustbein und ihr Körper schrie nach Luft. Wenn sie den Stimmen folgte, würde sie sich ausruhen können. Doch sie hatte Mathildes Warnung im Ohr, kämpfte gegen den Sog an und konzentrierte sich auf ihre Aufgabe. Während sie immer enger werdende Kreise zog und dabei umherblickte, drängte sie das Raunen aus ihrem Kopf. Sie kam nur schwer voran, denn die Lethe war hier unten glasklar, aber so dickflüssig, dass Julies Arme bald von den Schwimmbewegungen zu schmerzen begannen. Auf einmal erregte etwas ihre Aufmerksamkeit. Ein dunkler Strich, der reglos in der Flüssigkeit hing, als wäre er eingebettet in Gelee. Das war es, was sie zurückbringen sollte: Ein Stab aus dunklem Holz, nicht dicker als ein Daumen, an einem Ende ein wenig breiter, am anderen mit einer goldenen Spitze versehen. Sie arbeitete sich an ihn heran, ergriff ihn und wollte gerade an die Oberfläche zurückkehren, als unsichtbare Hände ihre Beine packten und sie in die Tiefe zogen. Julie wand sich und strampelte vergeblich. Ihr ganzer Körper schrie nach Luft, doch unaufhaltsam wurde sie nach unten gezerrt.
Plötzlich kam es ihr so vor, als formten sich Gesichter in der Flüssigkeit, schemenhaft und kaum umrissen, da waren blinde Augen, Nasen, Münder und auch die Stimmen wurden eindringlicher, unnachgiebiger, wollten sie nicht gehen lassen. Finger streichelten, zogen, umklammerten sie. Unwillkürlich öffnete Julie den Mund, um zu schreien, sofort füllte Lethe ihren Mund. Nicht trinken! , hämmerte eine ferne Stimme in ihrem Kopf, als die geschmacklose Flüssigkeit ihre Kehle hinabrann. Die Gesichter der Seelen kamen immer näher, umwogten sie, und Julie konnte ihre Gier nach Leben spüren. Was würde mit ihr geschehen, wenn sie sich nicht befreien konnte?
Und auf einmal war Gabrielle bei ihr. Ihr Gesicht war so undeutlich wie die anderen, aber Julie erkannte sie sofort. Sie
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