Prophezeiung der Seraphim
konnte und nur wenig größer als das Lager aus Schaffellen am Boden, an dessen Kopfende eine große Holzkiste mit Eisenbeschlägen stand. Javier drängte sich an Julie vorbei und öffnete die Kiste mit einem Schlüssel, den er an einer Schnur um den Hals trug. Er klappte den Deckel auf und wühlte einige Zeit darin herum. »Irgendwo muss es doch sein …«, murmelte er. Schließlich zog er ein hellgrünes Stoffbündel hervor und drückte es Julie in die Hand.
»Hier, dein Kostüm.«
Sie faltete es auseinander und hielt es in die Höhe. Es war ein Gewand aus mehreren Lagen halb durchsichtigen Stoffs, an manchen Stellen mit silberfarbenen Metallplättchen bestickt, die leise klingelten, wenn sie aneinanderstießen. Es besaß keine Ärmel, sondern war an den Schultern mit Messingfibeln zusammengefasst. Julie zog die Augenbrauen hoch und sah Javier zweifelnd an: »Das ist ein wenig … freizügig.«
Der Messserwerfer grinste. »Ganz recht. Wir wollen doch etwas verdienen, und in Zeiten wie diesen sitzt das Geld den Leuten nicht gerade locker in der Tasche. Also helfen wir etwas nach. Es würde übrigens auch nicht schaden, wenn du dir Gesicht und Haare säubern würdest. Hinter dem Lager fließt ein Bach vorbei.«
Julie wollte ihm für diese Unverschämtheit schon eine gepfefferte Antwort entgegenschleudern, als ihr bewusst wurde, wie recht er hatte. Sie drückte ihm das Kostüm in die Hand. »Hast du ein Handtuch für mich?«
»Selbstverständlich, Mademoiselle!« Javier zog ein löchriges Leintuch sowie ein kleines Stück Seife aus der Kiste und reichte es ihr. »Lass dich nicht von den Fröschen beißen!«, rief er ihr nach, aber sie würdigte ihn keiner Antwort.
In den folgenden Tagen reiste die Gruppe tagsüber und schlug am späten Nachmittag ihr Lager auf. Sie kamen langsam voran, aber in dem Zug von Wagen, Tieren und Leuten waren sie aus der Luft kaum auszumachen und damit sicherer vor Angriffen der Cherubim.
Ganz gleich, wie müde Julie war, Javier bestand darauf, dass sie an ihrer Nummer arbeiteten, sobald das Zelt aufgestellt war. Den anderen erging es ebenso: Ruben assistierte der Seiltänzerin Olga, Fédéric übte, das Feuer zu zähmen, und Nicolas musste zu seinem großen Kummer die Pferde von Meister Flajollet versorgen.
Als sie an einem besonders warmen und sonnigen Nachmittag früher als gewöhnlich ihr Lager aufschlugen und Javier damit beschäftigt war, seine Ausrüstung auszubessern, schlug Songe Julie vor, die seit Langem verschobene Lektion in Magie endlich durchzuführen. Es wird Zeit, dass du lernst, deine Kräfte zu gebrauchen .
Julie stimmte nur zögernd zu. Die Ausbrüche des blauen Lichts, die ohne ihr Zutun geschehen waren, hatten sie jedes Mal so erschöpft und leer zurückgelassen, dass sie dieses Gefühl ungern wiedererleben wollte.
Gerade deshalb musst du lernen, die Magie in dir zu kontrollieren. Songe lief vor ihr her, den Schwanz steil in die Luft gereckt. Sie führte Julie hinter einen Hügel, sodass man sie vom Lager aus nicht sehen konnte, sprang auf einen niedrigen Felsen und fing sogleich an zu dozieren.
Es gibt nur wenige Quellen von Magie , sie ist also ein kostbarer Rohstoff. Sie verbraucht sich ebenso, wie das Wachs einer brennen den Kerze verzehrt wird, doch du bist gewissermaßen ein Reservoir, das sich immer wieder erneuert.
»Und weshalb fühle ich mich dann so furchtbar, wenn ich Magie benutzt habe?«
Weil du alles auf einmal verbrauchst und sich das Reservoir dadurch vollständig leert. Darum musst du lernen, die Magie zu dosieren und immer nur so viel davon freizugeben wie nötig.
Julie seufzte. »Nun gut, fangen wir an. Was muss ich tun?«
Songe wies sie an, sich bildlich vorzustellen, sie wäre ein Krug und die Magie das Wasser darin. Julie musste lachen, aber Songe beharrte darauf, und schließlich schloss Julie die Augen und tat, was die Katze verlangte. Sie stellte sich ihren Körper mit blauem Licht gefüllt vor. Zunächst spürte Julie keine Veränderung, und sie wollte schon die Augen öffnen, doch dann geschah etwas Seltsames: Zum ersten Mal fühlte sie die Magie in sich wachsen – als läge ein warmer Ball in ihrem Bauch. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Das ist ja ganz einfach!
Freu dich nicht zu früh , erwiderte Songe. Magie tut nicht immer das, was man will, und sie tut es nicht immer, wann man es will. Um sie wirklich zu beherrschen, braucht es viel Erfahrung.
Da die Worte ihrer Freundin so ernst geklungen hatten, schwieg Julie
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