Proust 1913
werden. Der Weg dahin ist lang. Die ersten Spuren legt Proust in einer der kleinen Agenden. Diese wurde 1972 unter dem Titel
Carnet de 1908
erstmals veröffentlicht: Notizen zu Gelesenem und Geschriebenem, Träume, Szenarien, Namen, Redewendungen. Daneben publiziert Proust in
Le Figaro
eine Reihe von Pastiches, und in einem Brief an Louis d’Albufera von Anfang Mai 1908 erwähnt er nicht eine, sondern acht Arbeiten, an die er sich gemacht hat: »eine Studie über den Adel, einen Pariser Roman, ein Essay über Sainte-Beuve und Flaubert, ein Essay über die Frauen, ein Essay über die Päderastie (nicht leicht zu publizieren), eine Studie über Kirchenfenster, eine Studie über Grabplatten, eine Studie über den Roman […]«. ( VIII , 112 – 113 ) Dass er einiges geschrieben hat, darauf deutet eine Notiz in der kleinen Agenda (Sommer 1908 ), in der die »pages écrites«, die bereits geschriebenen Kapitel, aufgelistet sind. Zwei dieser Kapitel kreisen um »le côté de Villebon et le côté de Méséglise«, die Gegend von Villebon und die Gegend von Méséglise. Offensichtlich sind die gegenüber Louis d’Albufera etwas angeberisch angegebenen Arbeiten und die in der Agenda festgehaltenen Kapitel Teile jener gegenüber Madame Straus angekündigten »längeren Arbeit«. Das gilt auch für die im Herbst immer häufiger werdenden Notizen über Sainte-Beuve und die Entwürfe – bald in Form eines kritischen Essays, bald in Form eines Gesprächs mit der Mutter –, in denen Proust die Methode Sainte-Beuves zu widerlegen sucht und die 1954 unter dem Titel
Contre Sainte-Beuve
veröffentlicht wurden. Was – so lautet Prousts These – in der Literatur zähle und worauf der Literaturkritiker deshalb achten müsse, ist nicht die äußerliche, biographische Person eines Autors, wie sie sich ihren Zeitgenossen gegenüber darstellt, sondern dessen innere Person, die Persönlichkeit, wie sie im Werk zum Ausdruck käme. Weil er dieses Gesetz nicht befolgte, verherrliche Sainte-Beuve drittrangige Autoren, verkenne aber die großen Dichter seiner Zeit: Baudelaire, Balzac, Stendhal, Flaubert etc. Als Vorspann zu dem Gespräch mit der Mutter über Sainte-Beuves Methode öffnet Proust – gleichsam als Anschauungsunterricht – die Tür zu der inneren Welt: Träume, Träumereien, Gedanken, Empfindungen, Sinneseindrücke, Erinnerungen, Reisewünsche. In den ersten Monaten des Jahres 1909 fügt sich Entwurf an Entwurf, und je länger Proust weiterschreibt, desto mehr entfernen sich die Entwürfe von der biographischen Sphäre (Mutter, Vater, Reynaldo Hahn, Venedig, Bretagne) und entwerfen fiktionale Szenarien (Combray, ein Seebad namens Querqueville, die Guermantes, die Verdurins, junge Mädchen am Strand, Swann). Als Proust sich im Juni 1909 vornimmt, das überquellende Material zu einer zusammenhängenden Fassung zu formen, wird der Vorspann für ein Gespräch mit der Mutter zur Ouvertüre eines Romans. Unter dem Titel »Contre Sainte-Beuve. Souvenir d’une Matinée« bietet Proust das Werk, das vorläufig nur aus einem nicht abgeschlossenen Manuskript besteht, dem
Mercure de France
an. Ohne Erfolg, doch Calmette lässt ihn auf eine Veröffentlichung im Feuilleton von
Le Figaro
hoffen. Ende des Jahres ist ein erster Teil des Werks ins Reine geschrieben und abgetippt. Proust schickt das Typoskript, gebunden zu drei Heften, der Redaktion von
Le Figaro.
Ohne Erfolg: Im Juli 1910 holt er das Typoskript wieder ab. Doch in der Zwischenzeit hat er unablässig weitergeschrieben – an allen Teilen seines Romans: zuerst an der Schlussszene, dann an den Aufenthalten in einem Seebad an der Kanalküste oder in Venedig und an den großen Szenen in der Welt der Guermantes. Am 24 . April 1910 schreibt er an Madame Straus: »Sie wissen ja (ich habe es Ihnen oft genug gesagt), dass ich daran bin, ein langes Werk zu beenden.« (X, 80 ) Von beenden kann keine Rede sein; das Werk wächst und wächst. Im Juli 1912 spricht Proust von »sieben-, acht- oder neunhundert Seiten«, im Oktober dann schon von ungefähr 1250 Seiten. Längst hat er die Hoffnung aufgeben müssen, sein Werk in einem einzigen Band zu veröffentlichen. Das Typoskript des ersten Teils ist auf 712 Seiten angewachsen. Dieses unterbreitet er im Oktober 1912 dem Verlag Fasquelle mit dem Vorschlag, das Werk in zwei Bänden zu veröffentlichen. Erster Band: »Le Temps perdu«; zweiter Band: »Le Temps retrouvé«; Haupttitel: »Les Intermittences du cœur«. Im November
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