Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pulverturm

Pulverturm

Titel: Pulverturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Maria Soedher
Vom Netzwerk:
Am Pulverturm
    Es hätte kälter sein müssen zu dieser Jahreszeit. Die dünne Eisschicht im Hafenbecken war innerhalb weniger Stunden im Nichts vergangen, und über dem bayerischen Löwen und der Spitze des Leuchtturms kreiste müde eine Handvoll Möwen. Nur ab und an war einer ihrer kehligen Schreie zu vernehmen, und selbst diese sonst so aufgeregten Laute versanken in der Stille einer winterlichen Insel.
    An der südlichen Ufermauer wurde der niedrige Wasserstand ansichtig. Der See hatte wie eh und je Abstand von der Stadt genommen und lag zurückgezogen vor den Ufermauern. Grobe Kieselsteine, Treibholz, Schnüre, Fäden, dazwischen Blechdosen und Plastikbecher bildeten die Grundlage eines unbenutzbaren, imaginären Strandes. Die Wasseroberfläche des Sees weit draußen spiegelte ein sorgloses Grau wider, und am Horizont ruhten schneebedeckte Gipfel.
    In diesem abgeschminkten Zustand offenbarten Mauern und Gassen eine während sommerlicher Heiterkeit verborgene Seite der Stadt – eine unaufdringliche Melancholie. Die Zeit genügte sich selbst im lauen Plätschern sanfter Wellen, und war dieser Ort am Bodensee auch dem irdischen Treiben, Streben und Leiden nicht entkommen, so war es doch ein entrückter Flecken Land um und am See, wo Todsünden, Elend, Kümmernis und Pein ebenso ein Zuhause fanden wie anderswo – aber all das, woraus das Leben bestand, fühlte sich hier in den wassernahen alten Gassen scheinbar wohliger zu Hause als an anderem Ort. Es war Ende November, und nur einige treue Liebhaber der alten Mauern weilten zu Besuch. Im Kern der Insel und jenseits der Seebrücke, auf dem Festland, herrschte gezügelter Alltag. Die Stadt ruhte.

    Eine Gestalt kam von der Seepromenade, querte den Platz vor dem Bahnhof und strebte, wie von einer unsichtbaren Hand geleitet, dem Uferweg hinter dem Leuchtturm zu. Der Kopf blieb geneigt, schenkte weder dem Hafenbecken, dem Bahnhofsgebäude noch den beiden Wahrzeichen der Hafeneinfahrt einen Blick. Es war ein Mann, der da ging. Sein Wollmantel war nicht geschlossen, und so schwangen die Enden ebenso nachdenklich im Gleichschritt, wie die Gestalt an Eindruck vermittelte, denn hätten Beobachter dem Mann nachgesehen, so wären sie zu der Auffassung gelangt, dass dieser Mensch sich nicht in Bewegung befand, um voranzukommen, sondern dass der einzige Zweck seines Fortkommens darin bestand, nachzudenken. Er schien entrückt, wandelte aber sicher dahin, war also zweifelsfrei ein Einheimischer, einer, dem die Wege vertraut waren. Die Sonne stand grell über einer gleißenden Nebelwand, die sich über dem Wasser gebildet hatte. Die nach Süden gewandte Ufermauer nahm die wärmenden Strahlen auf, und so war es besonders angenehm, zwischen den knorrigen Stämmen der Linden und den alten Sandsteinen der Mauer dahinzugehen. Niemand sonst war zu sehen. Vor der Südfront der Kaserne standen vier einfache Bänke ohne Lehne. Die an sich gelungene Ausstrahlung dieses Ruhe verströmenden Ensembles wurde zerstört durch die Papierkörbe, die, so notwendig sie auch sein mochten, einen anderen Platz verdient hätten. Doch der Mann hatte dafür keinen Sinn und keine Gedanken. Er genoss die warme Oberfläche der sonnenbestrahlten Sitzflächen. Aufrechtes Sitzen schmerzte ihn, und daher beugte er sich nach vorne, legte die Ellbogen auf die Knie, ließ das Kinn auf die gefalteten Hände sinken und überließ sein Gesicht der Sonne.
    Es war kein stattlicher Mann. Es fehlte an der dazu erforderlichen Größe. Auch machte er keinen sportlichen Eindruck. Die Haare waren schütter, er trug eine Hornbrille, die – wie das Leben so spielt – inzwischen wieder in Mode gekommen war. Braune Schuhe, graue Flanellhosen, ein hellblaues Hemd, darüber ein Pullunder mit schwarzen, roten und grauen Rauten. Er atmete leise und fühlte der Wärme in seinem Gesicht nach.

    Eine selbstbewusst klingende Kinderstimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Schläfst du da?«
    Er fuhr auf, öffnete die Augen und musste die Hand schützend vor die Stirn halten, um etwas zu erkennen. Erst sah er bunte Kreise und Punkte und nach einigen Sekunden dann ein Mädchen. Es blickte ihn interessiert an, was ihn verwunderte. Niemand sah ihn interessiert an. Er war einer jener Menschen, die nie wahrgenommen wurden, an die sich niemals jemand erinnerte. Er schaute kurz um sich. Kein Mensch sonst war zu sehen.
    »Was machst du hier?«, fragte die Kleine neugierig und schüttelte mit einer anmutigen Bewegung die schulterlangen braunen

Weitere Kostenlose Bücher