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White Horse

White Horse

Titel: White Horse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Adams
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PROLOG
    ZEIT: DAMALS
    Es ist so: Mein Therapeut soll nicht denken, dass ich
verrückt bin. Dass mir die Lüge so glatt von der Zunge geht, ohne über meine
Zähne zu stolpern, ist ein Wunder.
    Â»Ich habe letzte Nacht von dem Gefäß geträumt.«
    Â»Schon wieder?«, fragt er.
    Das Leder unter meinem Kopf quietscht, als ich nicke.
    Â»Von genau dem gleichen Gefäß?«
    Â»Es ist immer das gleiche Gefäß.«
    Seine Feder kratzt über das Papier.
    Â»Beschreiben Sie es mir, Zoe.«
    Wir haben diesen Dialog nun schon ein halbes Dutzend Mal geführt,
Dr. Nick Rose und ich. Ich antworte immer das Gleiche. Ich habe eine
Engelsgeduld mit ihm. Oder er mit mir. Ich, weil mich dieses Gefäß verfolgt,
und er vielleicht, weil er ein Boot kaufen will.
    Die Couchkissen werfen Falten, als ich mich zurücklehne und ihn auf
mich einwirken lasse wie diese erste Tasse Kaffee, die ich am Morgen trinke. In
kleinen, genüsslichen Schlucken. Er ruht bequem in dem verknautschten Sessel.
Sein Körper hat dem Leder einen sanften Schimmer verliehen, der dem Auge
guttut. Seine großen Hände sind schwielig, gewöhnt an harte Arbeit, die nichts
mit diesem Sprechzimmer zu tun hat. Sehr kurzer Haarschnitt, leicht zu pflegen.
Die Augen dunkel, wie meine. Und wie seine Haare. Er hat eine Narbe am Kopf, an
einer Stelle, die er im Spiegel wohl nicht sehen kann, und ich frage mich, ob
er mit den Fingerspitzen darübertastet, wenn er allein ist, oder ob sie ihm gar
nicht mehr bewusst ist. Die gebräunte Haut verrät, dass er kein Stubenhocker
ist. Aber wie verbringt er seine Freizeit? Eher nicht auf einem Boot.
Vielleicht auf dem Motorrad. Ich verkneife mir ein Lächeln, als ich mir das
vorstelle. Sobald es nämlich nach außen dringt, fragt er mich nach dem Grund
meiner Heiterkeit. Und auch wenn ich meine Gedanken offenlege, weihe ich ihn
nicht in alle meine Geheimnisse ein.
    Â»Wie Crème brulée. Maler würden vielleicht helles Ocker dazu sagen.
Es ist … wie für mich gemacht. Wenn ich im Traum die Arme nach den Henkeln
ausstrecke, bilden sie einen perfekten Winkel. Hatten Sie in Ihrer Klasse auch
dieses eine Kind mit den total abstehenden Ohren?« Ich setze mich auf, streiche
meine Haare nach hinten und biege die Ohrmuscheln unter Schmerzen nach vorn,
bis sie einen rechten Winkel zum Gesicht bilden.
    Sein Mund zuckt. Er würde gern lächeln. Ich spüre den Widerstreit in
seinem Innern: Ist das professionell? Oder könnte sie darin eine sexuelle
Belästigung sehen? Lach doch!, möchte ich ihm sagen. Bitte!
    Â»Ich war dieses Kind.«
    Â»Tatsächlich?«
    Â»Nein.«
    Sein Lächeln bricht sich Bahn, und einen Moment lang vergesse ich
das Gefäß. Dieses Lächeln wirkt weder übertrieben noch perfekt, aber es gilt
mir allein. Tausend Fragen kommen mir in den Sinn, jede darauf zugeschnitten,
ihn so auszuloten, wie er mich auslotet.
    Â»Haben Sie das auch – einen Traum, der sich ständig wiederholt?«,
frage ich.
    Das Lächeln zerrinnt. »Ich erinnere mich nicht an meine Träume. Aber
wir sprechen von Ihnen.«
    Richtig. Gönn mir keine Belohnung. »Das
Gefäß, das Gefäß. Was soll ich Ihnen noch über dieses Gefäß erzählen?«
    Â»Hat es irgendwelche Muster oder Inschriften?«
    Das weiß ich auf Anhieb. Ohne nachzudenken. »Nein. Absolut nichts.«
Meine Schultern schmerzen von der Anspannung. »Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
    Â»Welche Gefühle weckt es in Ihnen?«
    Â»Angst. Schreckliche Angst.« Ich beuge mich so weit vor, dass meine
Ellbogen eine Delle auf den Knien hinterlassen. »Aber auch Neugier.«



EINS
    ZEIT: JETZT
    Als ich aufwache, ist die Welt immer noch verschwunden.
Nur Bruchstücke bleiben. Fragmente von Orten und Menschen, die einmal ganz
waren. Die Landschaft auf der anderen Seite des Fensters ist giftig grün, so
ähnlich wie das Zeug, das früher über die Flachbildfernseher der Säuferbars
flimmerte. Zu grün. Dichte graue Wolken haben die Sonne schon vor Wochen
verdrängt und zwingen sie, unser Sterben verzerrt durch eine nasse Linse zu
beobachten.
    Unter den kleinen Gruppen Überlebender kursieren allerlei Gerüchte.
Dass der Regen die Sahara erreicht hat und bereits das erste Grün in der
endlosen Wüste sprießt. Dass die Britischen Inseln dem Untergang geweiht sind.
Die Natur bildet die Welt nach ihren eigenen

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