Purpurdämmern (German Edition)
hatte Mom Trost bei einem anderen Mann gesucht, vor langer Zeit. Dem Gedanken haftete etwas Tröstliches an. Er dachte, dass er sich die Locken bei nächster Gelegenheit abschneiden lassen musste, die stießen ihm schon auf die Schultern. Und sei es nur, um July zu brüskieren, die auf langhaarige Typen stand.
Abrupt blickte er weg und setzte sich wieder in Bewegung.
Die rostigen Überreste einer Klimaanlage verbarrikadierten die Tür zum Penthouse. Ken ließ sich in die Knie sinken und schob das Stück Blech beiseite, das den Zugang tarnte.
Er betrat sein Versteck gerade rechtzeitig zum Sonnenuntergang. Sein Zorn war zu stillem Groll verklungen, dennoch konnte er sich an dem spektakulären Schauspiel nicht erfreuen. Er verscheuchte ein paar Tauben vom Sims und ließ sich auf die mit Decken gepolsterte Fensterbank sinken.
Sobald die Sonne verschwand, verflüchtigte sich die Frühlingswärme. Ken nestelte die Kapuze seines Sweatshirts unter der Lederjacke hervor und zog sie sich halb über den Kopf.
Er hatte den Raum gesäubert und im Laufe der Jahre wohnlich eingerichtet. Es gab ein viktorianisches Sofa, das er im zwölften Stock gefunden hatte, ein improvisiertes Bücherregal und jede Menge Kissen und Decken. An der Wand hing ein riesiger Kunstdruck einer spanischen Galeone auf hoher See, den er drüben im Roosevelt Warehouse gefunden hatte. Er stellte sich gern vor, dass es die
Santa Maria
war, das Schiff, auf dem Kolumbus den Atlantik überquert hatte. In einer Ecke stapelten sich die Folien, mit denen er über die Wintermonate die Fensterhöhlen verschlossen hielt. Sie schützten zwar nicht vor der Kälte, aber hielten Schnee und Eisregen draußen.
Er schaltete seine batteriebetriebene Campinglampe ein und fischte den Hefter mit den Beispieltests aus dem Rucksack. Der AP -Test war seine Eintrittskarte ins College. Seine Nervosität stieg an, je näher der Termin rückte. Natürlich würden Dad oder Pat das nie verstehen, weil sie das College für eine Dekadenz der feinen Leute hielten. Aber er durfte das auf keinen Fall vermasseln. Er hatte kein Geld für die College-Gebühren, und welche Bank würde einem wie ihm einen Studienkredit geben?
Aber wenn er in drei Fächern die volle Punktzahl erreichte, qualifizierte er sich für ein Stipendium, das nicht nur die Studiengebühren bezahlte, sondern auch Unterkunft und Essen. Was bedeutete, dass er nicht länger darauf angewiesen sein würde, unter dem Dach seines Vaters zu leben.
Er stützte sein Kinn auf die Knie. Mom nannte ihn zwar einen Traumtänzer, aber so wie sie es sagte, wusste er, dass sie stolz auf ihn war. Jedenfalls wenn sie aus ihrer Parallelwelt auftauchte. Sie war nicht wirklich verrückt, wenigstens nicht im landläufigen Sinne. Mit den Jahren sah er das Muster in Moms Ausbrüchen, die frenetische Suche nach etwas, das sie verloren hatte. Er wünschte nur, er wüsste, was es war. Es hatte mit Apfelbäumen zu tun, immer wieder Apfelbäume, aber er bekam nichts sonst aus Mom heraus. Seit neunzehn Jahren nicht. Mrs Marks, die Psychologie an der Highschool unterrichtete, hatte gesagt, dass Mom professionelle Hilfe brauchte. Dass es einen schwarzen Fleck gab in Moms Vergangenheit, den sie aufarbeiten musste. Ein traumatisches Erlebnis, vielleicht eine Gewalttat. Etwas, das sie beobachtet hatte, oder bei dem sie selbst zum Opfer geworden war, und das sie tief in sich eingeschlossen hatte. Aus Scham, aus Furcht, aus Wut. Etwas, das in einem Hain von Apfelbäumen geschehen war.
Fröstelnd zog Ken den Reißverschluss seiner Lederjacke zu. Diese Gedanken führten zu nichts, außer zu Depressionen. Ein Psychiater, na klar. Wer sollte den bezahlen? Dad bestimmt nicht, der hielt Prügel für die beste Medizin.
Er schlug den Hefter auf und blätterte bis zu der Seite, an der er am Vorabend aufgehört hatte, zu lesen.
Die Teilnahme an den AP -Tests war freiwillig, und seine Highschool bot nicht einmal die Vorbereitungskurse an, aber Mr Higgins, der die Kunst- und Geografie-Stunden abhielt, half ihm trotzdem. Die Vorstellung, ihn zu enttäuschen, bereitete Ken fast körperliche Schmerzen. Higgins glaubte an ihn, im Gegensatz zu Mrs Prescott, der Rektorin, die ihn so dermaßen auf dem Kieker hatte, dass es schon lächerlich war. Sicher bekam sie jede Menge Anrufe von besorgten Eltern, die fürchteten, ihre Kinder könnten durch den Umgang mit Typen wie ihm, Ken O’Neill, auf die schiefe Bahn geraten. War das nicht zum Totlachen? Ausgerechnet er, der sich
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