Quo Vadis
aufgehalten hätten ohne Schlaf und Nahrung, in Leiden, Sorgen, Zweifeln, Unruhe, den Kopf in den Händen, nur von dem Gedanken erfüllt, ihr Herr und Meister sei tot. Der dritte Tag sei angebrochen, und das Licht habe die Mauern matt beleuchtet; aber er und Johannes seien noch immer ohne Hoffnung, ohne Trost gewesen. Sooft auch der Schlaf sie übermannt habe, da sie ja auch die vorausgegangenen Nächte zu keiner Ruhe gekommen seien, hätten sie sich doch immer wieder erhoben und von neuem zu klagen begonnen. Beim ersten Morgengrauen sei Maria Magdalena zitternd, mit wirrem Haar, hereingestürzt und habe gerufen: „Sie haben den Herrn weggetragen!“ Bei dieser Nachricht seien sie aufgesprungen und zur Grabstätte geeilt. Johannes, als der jüngere, sei zuerst dort angekommen, habe das Grab leer gefunden und nicht gewagt, einzutreten. Er, Petrus, etwas später beim Grabmal angelangt, habe sofort hineingeblickt, auf dem Stein das Linnen mit dem Schweißtuch gefunden, den Leichnam selbst aber nicht.
Sie hätten sich gedacht, die Priester hätten den Leichnam des Herrn hinwegnehmen lassen, und sie seien beide voll Furcht und in noch größerem Schmerze heimgekehrt. Später hätten sich noch andere Jünger zu ihnen gesellt und mit getrauert, so daß sie gemeinsam und jeder für sich ihre Klagen vor den Herrn der Heerscharen gebracht hätten. Die Hoffnung in ihnen sei erstorben gewesen; denn sie hätten erwartet, daß der Meister Israel erlösen würde, und es sei jetzt bereits der dritte Tag seit seinem Tode gewesen. Sie hätten nicht verstanden, warum der Vater seinen Sohn geopfert habe, hätten das Tageslicht nicht mehr schauen, sondern sterben wollen.
Die Erinnerung an diese schrecklichen Stunden erpreßte den Augen des Greises jetzt noch Tränen, die im Glanze des Feuers sichtbar wurden und in seinen grauen Bart herniederrannen. Sein kahles, bejahrtes Haupt zitterte, seine Stimme erlosch.
„Dieser Mann spricht die Wahrheit und weint in Wahrheit“, sagte sich Vinicius. Der Schmerz hatte auch die andächtig und still lauschenden Hörer ergriffen. Mehr als einmal schon hatte man zu ihnen von Christi Leiden gesprochen, und sie wußten, daß der Trauer Freude folgte; aber da ihnen ein Apostel, ein Augenzeuge dieses sagte, war der Eindruck so gewaltig, daß sie die Hände zusammenpreßten und schluchzten oder sich an die Brust schlugen.
Allmählich beruhigten sie sich, denn das Verlangen, noch mehr zu hören, gewann die Oberhand. Der Greis schloß die Augen, als wollte er Entferntes noch bestimmter sehen, und fuhr dann fort:
„Als die Jünger so weinten und trauerten, stürzte Maria Magdalena ein zweites Mal herein und rief: ‚Ich habe den Herrn gesehen!‘ Da sie ihn nicht erkannte, hielt sie ihn zuerst für den Gärtner, er aber sprach: ‚Maria!‘ Sie rief: ‚Rabbi!‘ und fiel ihm zu Füßen. Er befahl ihr, zu den Jüngern zu gehen, es ihnen mitzuteilen, und verschwand. Sie aber glaubten ihr nicht, und als sie vor Freude zu weinen begann, tadelten einige sie, andere glaubten, der Kummer habe ihren Geist verwirrt; denn sie hatte auch gesagt, daß sie Engel am Grabe gesehen habe; die Jünger jedoch, die ein zweites Mal dorthin geeilt, hatten es leer gefunden. Am späten Abend noch erschien Kleophas, mit noch einem Jünger von Emmaus kommend, trat ein und sagte: ‚Der Herr ist wahrhaftig auferstanden!‘ Und sie sprachen miteinander bei geschlossenen Türen aus Furcht vor den Juden. Da stand er plötzlich unter ihnen und sprach: ‚Friede sei mit euch!‘
Und ich sah ihn wie alle anderen, und er war das Licht und die Freude unserer Herzen; wir glaubten, daß er von den Toten auferstanden sei, daß die Meere austrocknen und die Berge sich in Staub verwandeln würden, seine Herrlichkeit aber ewig bleiben werde.
Acht Tage darauf legte Thomas Didymos seine Finger in des Herrn Wundmale an Händen und Füßen und berührte seine Seite; dann fiel er ihm zu Füßen und rief: ‚Mein Herr und mein Gott!‘ Der Meister sprach: ‚Weil du gesehen hast, Thomas, hast du geglaubt; selig sind, die nicht sehen und doch glauben.‘ Und wir hörten diese Worte und sahen ihn; denn er war unter uns.“
Vinicius lauschte, und das Wunderbare suchte sich in seiner Seele Platz zu verschaffen. Für einen Augenblick vergaß er, wo er war; er verlor das Bewußtsein der Wirklichkeit, die Fähigkeit zu unterscheiden. Er stand zwischen zwei Unmöglichkeiten. An das, was der alte Mann gesagt hatte, konnte er nicht glauben; und dennoch
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