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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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und ihrer früheren Freundin zu, weil sie in letzter Zeit immer wieder das Gefühl hatte, Paul würde sich ihr entziehen und könnte sich für ihr berufliches Engagement auf seine Weise rächen? Hatte sie sich zu wenig um ihn gekümmert, weil ihr die eigene Karriere wichtiger war? Immerhin kam sie, im Gegensatz zu ihm, meistens pünktlich nach Hause und sorgte gewissenhaft für Abendessen und Frühstück.
    Routinemäßig leerte sie auch jetzt den Aschenbecher aus, trug Pauls Sakko in die Garderobe und hängte ihn auf einen Bügel, stellte die silberne Zuckerdose wieder in den Wandschrank, strich die Tischdecke glatt. Am nächsten Morgen hätte sie erfahrungsgemäß wenig Zeit für derartige Ordnungsarbeiten, und die Haushaltshilfe kam erst in drei Tagen.
    Als sie ein Kissen zurechtrückte, entdeckte sie das Handy ihres Mannes. Es mußte aus seiner Jackentasche herausgerutscht sein und fiel auf dem dunklen Sofa kaum auf. Da kam ihr ein Gedanke. Sie drückte auf die Wiederholungstaste des Handys und hörte logischerweise ihr eigenes Telefon läuten; schließlich hatte sich Paul ja kurz vor seinem Eintreffen bei ihr angemeldet. Schnell legte sie wieder auf, damit er nicht in der oberen Etage an ihren Apparat ging.
    Ja, so mochte es gewesen sein: Ihr Mann hatte auf dem Heimweg wie üblich angerufen, um sowohl seine Verspätung anzusagen als auch Annettes Nachfrage in seiner Kanzlei zu verhindern. Als er hörte, daß seine Geliebte nicht zu Hause, sondern bei der eigenen Ehefrau zu Besuch war, mußte er blitzschnell umdisponieren, um einer allzu vertraulichen Unterhaltung zwischen ihnen zuvorzukommen. Den mobilen Apparat steckte er wie stets in die Jackentasche. Und wie immer zog er zu Hause den Sakko aus und warf ihn aufs Sofa, eine Unsitte, die Annette ihm nicht abgewöhnen konnte. Wie eine Abhör-wanze hatte das kleine Gerät die Wohnzimmergeräusche aufgenommen und der arglosen Ehefrau direkt ins Ohr übertragen.
    Um ganz sicherzugehen, beschloß sie, einen Test zu
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    machen. Als ihr Mann vor dem Schlafengehen unter der Dusche stand, drehte sie im Wohnzimmer das Radio auf gedämpfte Lautstärke, rief mit Pauls mobilem Apparat ihre eigene Nummer an und legte das Handy wie zuvor halb unter ein Sofakissen. Dann spurtete sie nach oben und nahm ab. Über den Hörer klang ihr die gleiche schottische Volksmusik entgegen, die im unteren Raum dudelte. Trotz ihrer Niedergeschlagenheit triumphierte Annette ein wenig.
    Die Post
    In jener Nacht schlief Annette fast gar nicht; als sie gegen Morgen doch ein wenig einnickte, träumte sie von Olga, die in kirschroten Schuhen vor einer roten Ampel Flamenco tanzte und dabei auf provozierende Weise bei jedem anhaltenden Auto die Röcke hob.
    Im Büro konnte sie sich auf nichts konzentrieren. Das Stichwort hieß Granada, hatte ihr Mann gesagt. Annette ahnte durchaus, was das zu bedeuten hatte. Vor zehn Jahren hatte sie ihren Paul ebendort kennen- und liebengelernt, in der Semana santa, der Karwoche, die jetzt wieder bevorstand. Damals hatte Annette einen Spanischkurs absolviert, Paul hatte Urlaub gemacht. Sie saßen abends an benachbarten Tischen und aßen Tapas, als eine Straßenkapelle mit den Proben für die Prozession begann. Annette und Paul begeisterten sich gleichermaßen für die laute, schräge, unvergleichliche Blechmusik und schon bald auch füreinander. Und nun wollte er diese Reise mit Olga wiederholen!
    Früher als sonst verließ Annette das Büro und schützte eine beginnende Erkältung vor. Zu Hause begab sie sich zielstrebig in das Arbeitszimmer ihres Mannes und knöpfte
    sich seine Schreibtischschubladen vor; als erstes wollte sie herauskriegen, wann die Affäre mit Olga begonnen hatte. Als sie keine verdächtigen Hinweise fand, durchsuchte sie den Kleiderschrank, drehte jede Tasche seiner Jacken und Mäntel um. Auch hier stieß sie bloß auf Münzen, zerknüllte Taschentücher, Benzinrechnungen, Feuerzeuge, Knöpfe. Als letztes blieb der Computer, der früher einmal Pauls Bruder gehört hatte. Als Achim sich vor drei Jahren einen Laptop anschaffte, hatte er Paul seinen veralteten PC für einen keineswegs brüderlichen Preis aufgeschwatzt.
    Das Paßwort war Annette bekannt. Pauls Briefpartner schrieben ebenso langweilige wie kurze Mitteilungen. Unter den gespeicherten Adressen befand sich auch die von Olga. Annette hatte bisher nicht gewußt, daß Olga einen Internetanschluß hatte. Zermürbt von ihrer eigenen Wut, ging Annette früh zu Bett und zog sich die Decke

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