Rabenbrüder
erfüllen konnte. Die Mutter hatte sich ihren Sohn als Schriftsteller von internationalem Rang erträumt, der Vater setzte auf einen Physiker mit Nobelpreisanspruch. Seit einigen Jahren logen sie einander vor, daß Paul nun endlich als Anwalt die große Karriere machte. Seine Liebhabereien, wie zum Beispiel das Zeichnen von Ruinen oder sein Interesse für Erfindungen, waren von seinen Eltern nie ernst genommen worden.
Vielleicht lag es am Vorbild der sterilen elterlichen Partnerschaft, daß Pauls Ehe nicht glücklich war, und mit 39 Jahren war es für einen weiteren Anlauf nun fast zu spät. Als Student hatte er eine zehn Jahre ältere Nachbarin geliebt, die ihn an seine Mutter erinnerte, doch diese Beziehung war leider gescheitert.
Paul war etwa vierundzwanzig, als ihn eines Abends der vier Jahre jüngere Achim in seiner Studentenbude überfiel.
An jenem Abend betranken sie sich über das übliche Maß hinaus, bis sie schließlich allerhand kränkende Vorwürfe aus längst vergangenen Tagen gegeneinander erhoben. In gereizter Stimmung erzählte Achim, wie er nach bestandener Führerscheinprüfung eine Flasche Sekt geöffnet und gemeinsam mit der Mutter geleert habe. Danach sei sie mit ihrem seltsamen Mona-Lisa-Lächeln im Schlafzimmer verschwunden, wohin Achim ihr folgte. Sie hätten miteinander geschlafen, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt. Allerdings nur dieses eine Mal.
»Und Papa?« fragte Paul mit trockenem Mund. Der habe damals in der Klinik gelegen, weil er an chronischem Tinnitus und hohem Blutdruck litt.
Seit diesem Abend konnte Paul den Eltern nicht mehr in die Augen sehen und beschränkte seine Besuche auf ein Minimum, mit seinem Bruder brach er den Kontakt gänzlich ab. Jene Freundin, die er in aller Unschuld für ein verjüngtes Abbild seiner Mutter gehalten hatte, brüskierte er auf verletzende Art, so daß sie ihn verließ.
Erst Jahre später, als die Familie den siebzigsten Geburtstag des Vaters feierte, hatte Paul zaghaft versucht, den Bruder zur Rede zu stellen.
Achims Lachen klang eher gehässig als verlegen. Ob Paul den Unsinn tatsächlich geglaubt habe? »Mein Gott, ich war besoffen und habe dummes Zeug gelabert. Vielleicht wollte ich ja insgeheim als moderner Ödipus in die Weltgeschichte eingehen, aber du kennst doch unsere Mama: einfach unvorstellbar!«
Paul konnte nie verzeihen, was Achim mit dieser Lüge angerichtet hatte, denn die skandalöse Behauptung hing wie eine trübe Wolke über ihm und ließ sich nicht restlos verdrängen. Einerseits schämte er sich, den betrunkenen Bruder auch nur eine Minute lang angehört zu haben. Andererseits verwirrte ihn die Vorstellung eines Inzests in der eigenen Familie so stark, daß er sich zuweilen einbildete, es sei doch ein Körnchen Wahrheit daran. Hinzu kamen seine juristischen Bedenken: Beischlaf zwischen leiblichen Verwandten wurde nach § 173 StGB mit Freiheitsentzug bis zu drei Jahren bestraft. Im nachhinein konnte Paul auch nicht mehr nachvollziehen, warum er seinem Bruder keine Ohrfeige reingesemmelt hatte, die noch Tage später gebrannt hätte. Statt dessen hatte er den Torkelnden wortlos aus dem Zimmer geschoben und die Tür hinter ihm geschlossen.
Selbst lange Zeit nach Achims Dementi konnte Paul nicht anders, als seinen Eltern mit Mißtrauen zu begegnen. Die Mutter mochte ihm zärtlich über die Wange streichen, der Vater wie gewohnt auf egozentrische Art über seine Krankheiten klagen - alles erhielt einen fatalen Anstrich. Wollte ihm die Mama auf gar nicht mütterliche Weise nahe kommen? Hatte der stets schlechtgelaunte Vater Gründe für seine Depressionen? Wie hatte es die Mutter an der Seite eines zwanzig Jahre älteren Hypochonders ausgehalten? Hatte sie Liebhaber gehabt? Sprach es nicht für ein latent schlechtes Gewissen, wenn sie den Papa unermüdlich umsorgte? Paul mußte sich eingestehen, daß er im Grunde seiner Seele den Vater zuweilen gehaßt hatte und als kleiner Junge lustvoll zur Mutter ins Bett geschlüpft war. Über seine ambivalenten Gefühle konnte Paul allerdings mit niemandem sprechen, denn er wollte nichts weniger, als das eigene Nest durch Gerüchte beschmutzen.
Als er seine spätere Frau Annette kennenlernte, war er erleichtert, daß sie keine Ähnlichkeit mit seiner Mutter hatte.
Und heute, mit 39 Jahren, steckte er nun mitten in einer Ehe-, Finanz- und Midlifekrise. Paul befand sich gerade in seinem Arbeitszimmer, blätterte lustlos in einem Katalog und hing düsteren Gedanken
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