Rabenflüstern (German Edition)
in die Decken gewickelt hatte, wies er sie an, sich festzuhalten. Den Knaben auf den Schultern, das Mädchen vor der Brust trugen seine schweren Beine sie in den dunklen Wald.
»Wohin gehen wir?«, wollte Heikhe ängstlich wissen, wobei sich ihre Fingernägel in den Stiernacken ihres Entführers gruben.
»An den Rhein. Dort werden wir einen Mann zu jung für sein weißes Haar finden«, wiederholte Rhoderik die Prophezeiung aus seinem Traum.
***
Hinter dem Thronsaal Brisaks befand sich ein Beratungsraum. Das einzige Möbelstück war ein Tisch mit vier Stühlen. Die übermannshohen Fenster tauchten die Wandmalereien neben und über der schmalen Tür in das dunkle Rot der Abendsonne. Beinahe schienen die Fabelwesen aus den Jagdszenen zum Leben zu erwachen. Bran stand vor den Bildern, seine Fürstenkrone lag schwerer als sonst in seiner Hand. Schon seit Stunden hatte er kein Wort gesprochen und doch war er nicht allein. Im einzigen Winkel des Raumes, in den kein Licht fiel, stand der Seher. Mit verschränkten Armen harrte er düster auf eine Reaktion des Fürsten. Er hatte ihm mitgeteilt, wie der König gefallen war und auf welche Weise weiter vorzugehen war. Seiner Miene war die Verachtung für all jene menschlichen Schwächen abzulesen, die Bran wie hunderttausend Nadelstiche quälten. Treue, Mitgefühl, Ehre – alles Zeichen der Mittelmäßigkeit, und gerade gefährdeten sie seinen Plan.
Die Krone fiel zu Boden.
Bestürzt trat der Seher aus dem Halbdunkel und hob sie auf.
Er lehnte sich an die marmorne Tischplatte und schnaubte missgelaunt. Er verspürte den Drang, Leid zuzufügen, zwang sich aber, seine Lust später auszuleben. Tief unter den Mauern der Stadt wartete ein ganzer Käfig voller Waisenkinder auf seine Zuneigung; sie würden sich gedulden müssen, Bran durfte jetzt nicht umkippen.
»Mein Fürst«, begann er unterwürfig, »all unsre Wünsche sind in Erfüllung gegangen: Eure Armee war siegreich, Theodosus ist geschwächt.« Den Zynismus jedoch konnte er sich nicht verkneifen, als er fortfuhr: »Nach dem ach so tragischen Tod des Königs seid Ihr nun der mächtigste Mann in diesen Landen. War es nicht das, was Ihr immer wolltet?«
Bran kämpfte innerlich mit sich selbst, er war zu weit gegangen, um umzukehren.
»Und die Orks?«, sann er. »Sie würden lieber zu Hunderten vor unsren Mauern sterben, als einen neuen Hochkönig auf dem Thron zu sehen.« Sein Blick glitt über ein Gemälde, auf dem ein Ritter mit seiner Lanze nach einem geflügelten Dämon stieß. »Und was ist mit Kraeh? Er ist anders als Berbast. Es wird nicht leicht, ihn von unsrer Sache zu überzeugen …«
»Ich kenne sein Schicksal«, warf der Schwarzgekleidete ein. »Kein Wort zu ihm«, setzte er mahnend hinzu.
Bran fröstelte. »Er ist wie ein Sohn für mich.«
Langsam kam sein Gesprächspartner auf ihn zu. Die Bewegungen wirkten bedrohlich. Kurz vor ihm blieb er stehen und warf seine Kapuze zurück. »Wir alle bringen Opfer, um das große Ziel zu erreichen.« Der Fürst wusste nicht, was ihn mehr beunruhigte: das reptilienhafte, gelb schimmernde rechte Auge oder die leere Höhle in der linken Gesichtshälfte.
»Kraeh wird schon bald zu uns stoßen. Er braucht Zeit, sein wahres Wesen zu entdecken. Sorgt Euch nicht um ihn, ich werde mich seiner annehmen, wenn es so weit ist. Doch zuerst wird er uns darin nützlich sein, den Stein der Macht zu beschaffen.« Wie bitterer Honig träufelten seine Worte in Brans Gewissen. »Ihr müsst jetzt stark sein, König Bran.«
Brans Gesichtsausdruck fand bei der bloßen Erwähnung des sagenumwobenen Relikts beinahe seine gewohnte Entschlossenheit wieder.
Es klopfte an der Tür. Als der Fürst sich nicht regte, rief der Seher ärgerlich: »Herein!«
Zwei wie Jäger gekleidete Männer betraten mit gesenktem Haupt den Raum.
Der jüngere von beiden ergriff das Wort: »In Triberkh ist niemand mehr am Leben außer …«
»Außer?«, hakte der Seher mit gefährlichem Unterton nach.
Dem Angesprochenen wurde zusehends unwohl. »Zwei Kinder«, stammelte er, »die jüngsten Gunthers, sie waren nicht dort.«
Jetzt nahm auch Bran Anteil an der Unterredung.
»Jemand muss sie gewarnt haben …«
Der Seher war neben die Kundschafter getreten. Etwas, das einer Hand nur entfernt ähnlich sah, huschte blitzschnell aus der Kutte hervor und rammte sich bis zum Gelenk in die Magengegend des bisher Schweigenden.
»Sprich weiter«, sagte er ruhig
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