Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
wollte den Fokus auf die häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder setzen. Ihre Partei unterstützte zwar nicht die Forderung nach verstärktem Kindesentzug und Zwangsentfernung aus den Familien, aber sie wich da vom Kurs ab. Es herrschte zu viel Unvermögen dort draußen in der Welt. Eltern, die nicht in der Lage waren, ihre Kinder angemessen zu versorgen; Männer, die das Konzept von Gleichwürdigkeitnicht begriffen und Frau und Kinder schlugen; Menschen, die einander missbrauchten, weil sie nicht anders konnten, und Gewalt, die weitervererbt wurde. Diese Teufelskreise mussten endlich durchbrochen werden.
Erinnerungen aus ihrem eigenen Leben tauchten auf. Sie wollte sie nicht sehen, aber hässlich und aufdringlich riefen sie ihr die bekannte Botschaft zu: Vielleicht konnte sie jetzt das für andere Menschen tun, wozu sie damals nicht in der Lage gewesen war, weder für sich noch für andere Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung.
Ihre Mundwinkel begannen zu zittern, und sie beugte schnell den Kopf übers Waschbecken und spritzte sich noch mehr Wasser ins Gesicht. Es war auch nicht nur der eine Aspekt. Es war nicht nur politisch. In letzter Zeit war etwas anderes an die Oberfläche geschwappt. Es hatte begonnen, auf sich aufmerksam zu machen, obwohl sie so lange versucht hatte, es zu unterdrücken. Vielleicht lag es daran, dass sich der 23. September näherte. In diesem Jahr jährte es sich zum 15. Mal. Ein Jubiläum, auf das sie gerne verzichtet hätte.
Sie ging in ihr Arbeitszimmer. Mechanisch setzte sie sich an den Schreibtisch und schaltete den Computer ein. Gleichzeitig wunderte sie sich darüber, dass er noch da stand. Genau genommen, wurde ihr in diesem Moment bewusst, fehlte gar nichts, außer ihrem Auto. Sie hatten weder den Flachbildschirm, die Bang&Olufsen- Stereoanlage, die PH-Lampen, die Arne-Jacobsen-Stühle oder die wenigen Gemälde von Wert mitgenommen. Sie besaß keinen wertvollen Schmuck außer dem, den sie am Körper trug: die Perlenkette, die Georg-Jensen-Armbanduhr und den Diamantring, den sie von William geschenkt bekommen hatte. Ihr fiel nichts ein, was die Einbrecher hätten mitnehmen können und was sich nicht nach wie vor an Ort und Stelle befand.
Der Bildschirm zog sie in seinen Bann. Sie hatte eine Reihe von E-Mails bekommen, aber ein Blick auf die Absender zeigte ihr, dass die meisten warten konnten. Sie scrollte durch die Listeund hielt bei der letzten inne. Ihr Puls schnellte in die Höhe. Der Absender hieß Jubi15. Sie schnappte nach Luft. Das konnte unmöglich ein Zufall sein. Sie sollte die Mail am besten gleich in den Papierkorb verfrachten und hatte sich eigentlich auch dafür entschieden, als ihr Finger ganz automatisch die Maus betätigte, die die Nachricht öffnete.
»Es hat gerade erst begonnen«, stand da.
KAPITEL 4
Dicte hörte die Sirenen immer näher kommen, das Geräusch drohte ihr fast das Trommelfell zu sprengen. Bo verminderte endlich den Druck auf ihren Körper, und ihre Atmung beruhigte sich allmählich. Abrupt wurde ihr Bodenkontakt zu dem rauen Asphalt beendet.
»Alles okay?«
Bo stand auf und half ihr hoch. In unmittelbarer Nähe standen andere verschreckte Fußgänger, die sich alle langsam vom Schock der zweiten Detonation erholten und sich ängstlich ansahen: Würde es weitere geben? Handys fingen an zu klingeln, Kurznachrichten trafen mit lautem Piepen ein, und das Stimmengewirr schwoll an. Der Chor der Autoalarmanlagen gellte nach wie vor von allen Seiten, wie in einem Dolby-Surround-System.
Wie automatisch bürstete sie sich den Staub von der Jacke und sah sich das Ausmaß der Zerstörung an. Das Gebäude, in dem sich das Solarium befunden hatte, war vollkommen verwüstet: das Erdgeschoss nur noch ein großes Loch, aus dem Flammen schlugen. Die Explosion hatte Teile des ersten Stocks weggerissen, man konnte in ein Badezimmer sehen und in ein anderes, das aussah wie eine Küche. Andere Teile der Wohnung, wahrscheinlich das Wohnzimmer, waren eingestürzt und hatten das Solarium unter sich begraben. Als hätte ein Riese mit einem Puppenhaus gespielt und aus Spaß die einzelnen Stockwerke auseinandergenommen.
Das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite war eingerüstet, zwei Handwerker in Overalls und Sicherheitsschuhen standen nebeneinander und unterhielten sich.
Dicte blinzelte den Staub aus den Augen und beobachtete, wie zwei Löschzüge und ein Einsatzwagen in der Straße hielten und Feuerwehrleute aus den Wagen sprangen. Sie begannen,
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