Radegunde von Thueringen
nach unserer Ankunft gab Justinian den Auftrag, einen Splitter vom Kreuz für dich abzutrennen und in Gold zu fassen.“
„Hast du das Kreuz Christi gesehen?“, platzte Basina heraus. Diese Frage kam allen aus dem Herzen.
„Nein.“ Giso zögerte. „Ich bin … nicht in das heilige Wasser getaucht.“
Die Mönche zogen erstaunte Mienen, einige wandten sich mit empörten Blicken zu Radegunde um. Ein Ungetaufter hatte den heiligen Splitter gebracht?
Eilig fuhr Giso fort. „Ich durfte es nicht sehen. Aber ich habe seine Macht gespürt.“
Die Mönche horchten auf.
„Der Raum, in dem es aufbewahrt wurde …“ Er schwieg und suchte nach Worten. „Eines Abends ging ich zufällig in die Nähe. Ich spürte ein leichtes Summen in der Luft, oder ein Vibrieren. Ich kann es nicht beschreiben, es war ein unglaubliches Gefühl. Wenn ich dem Raum näher kam, wurde es stärker. Ich setzte mich ins Gras und schloss die Augen. Da war eine Musik in mir, eine wunderbare Weise. Ich war einfach nur glücklich.“
Der Abt sah ihn kritisch an. „Woher wissen wir, dass der Splitter wirklich von diesem Kreuz stammt?“
Giso lächelte, als habe er diese Frage erwartet. „Auf dem Rückweg durch die Wüste wurden wir überfallen. Es waren Nomaden, wilde Kerle. Sie kamen mit schrillem Geschrei auf ihren Kamelen daher. Wir zogen die Schwerter und stellten uns ihnen entgegen. Die Packpferde mit den Geschenken hatten wir in die Mitte genommen. Der Kampf war zunächst unentschieden, niemand konnte die Oberhand gewinnen. Da löste sich plötzlich das Pferd mit der wertvollsten Ladung aus der Mitte und galoppierte schnurstracks auf unsere Bedränger zu.“
Er schob sich eine dünne Haarsträhne aus dem Gesicht. „Uns blieb vor Schreck die Schwerthand in der Luft hängen, als wir den Hengst laufen sahen. Nur wegen seiner Fracht hatten wir die lange Reise auf uns genommen. Was dann passierte …“
Erneut fuhr er sich durchs Haar. Die Augen der Mönche hingen an seinen Lippen. „Das klingt jetzt verrückt, aber es ist die Wahrheit, bei meinem Leben! Als die Nomaden das Pferd sahen, verstummte ihr grässliches Kriegsgeschrei und sie zügelten ihre Kamele. Es wurde still, so still wie jetzt hier in diesem Saal. Dann spürte ich es wieder, dieses Summen, die heiße Wüstenluft um uns herum sang eine wundersame Weise, die unsere Herzen erklingen ließ. Plötzlich wendeten die fremden Krieger ihre Tiere und ritten davon.“
Ein Raunen ging durch die Reihen der Gottesmänner. Einige bekreuzigten sich, andere nickten ehrfürchtig.
Radegunde stand auf und ging hinaus. In ihrem Herzen wollte trotz des ergreifenden Berichts keine rechte Andacht aufkommen. Was war mit Amalafrid?
Eine schwere Hand legte sich auf ihre Schulter. Sie fuhr herum. Giso stand hinter ihr, und in seinem gesunden Auge las sie Schmerz. Er wusste, dass er ihr weh tun musste.
„Er ist tot, nicht wahr?“
Gisos Auge verblasste wie das Meer, wenn sich eine Wolke vor die Sonne schiebt. „Ja.“
Er zog sie in eine stille Ecke des Klostergartens und drückte sie auf eine derbe Bank. „Die ganze Heimreise habe ich mich vor diesem Moment gefürchtet. Nachts habe ich überlegt, wie ich es dir beibringe, habe Worte hin und her gewälzt.“ Er zog ein Päckchen aus der Brusttasche seines Gewandes. „Zum zweiten Mal bringe ich dir deine Briefe zurück.“
„Wie …?“ Ihre Stimme brach.
„Er starb, kurz nachdem wir ankamen, vielleicht ein oder zwei Tage später. Er war schwer verletzt aus einem Kampf zurückgekehrt. Ein Schwerthieb …“
Die Tränen tropften auf das Bündel Pergament in ihren Händen. Verzweifelt überlegte Giso, wie er ihr Trost spenden könnte, und legte unbeholfen seinen Arm um ihre Schultern. Sie fiel zusammen und schluchzte haltlos. Vorsichtig wiegte er sie in seinen Armen.
Wie waren die Worte, mit denen sie zu ihrem Gott sprach und die ihr sonst Trost spendeten? Er versuchte, sich zu konzentrieren. „Vater unser, der du bist im Himmel, dein Name sei heilig, dein Reich komme, es geschehe, wie du willst …“
Radegunde blieb bei den Mönchen, verharrte in stummer Verzweiflung viele Stunden vor dem Kästchen mit der Reliquie. Doch die kostbare Fracht, nach der sie sich lange gesehnt hatte, spendete ihr nur wenig Trost.
Die Blätter an den Bäumen verfärbten sich bereits, als endlich der Bote mit der Nachricht von Sigibert eintraf. Ihr Stiefsohn hatte Bischof Euphronius von Tours gebeten, den abtrünnigen Maroveus zu vertreten und an seiner
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