Radegunde von Thueringen
statt die Reliquie nach Poitiers zu bringen. An einem sonnigen Tag im September des Jahres 569 setzte sich der feierliche Zug mit dem wertvollen Kästchen aus Konstantinopel in Bewegung. Bischof Euphronius ritt an Radegundes Seite, dahinter Basina neben Giso. Auf einem Packpferd folgte die Truhe mit dem sorgsam verpackten Reliquiar, sie war mit einem seidenen Tuch, Blumen und bunten Zweigen geschmückt.
Auf der Hälfte der Strecke erwartete sie eine Abordnung der Nonnen von Sankt Marie unter der Führung Schwester Claras, um sie mit Gebeten bis nach Poitiers zu geleiten. Die Frauen musterten immer wieder ehrfürchtig die geheimnisvolle Truhe auf dem Pferderücken.
Die Prozession erreichte die Stadt über die nördliche Clain-Brücke. Hinter der Stadtmauer stießen die anderen Nonnen mit ihrer Äbtissin Agnes hinzu, und die Formation wuchs zu einem mächtigen Zug heran. Venantius begleitete ihre Gesänge auf der Leier. An den Straßen standen die Leute, winkten und lauschten ergriffen den feierlichen Hymnen, die sich mehrstimmig zum Himmel emporschwangen. „Vexilla regis prodeunt, fulget crucis mysterium …“
Der Zug wand sich durch die jubelnde Menschenmenge in Richtung Sankt Hilarius, bog dann ab und zog an der Kirche Notre-Dame vorbei. Von hier aus ging es geradeaus weiter, es war die gleiche Straße wie vor acht Jahren, als das Kloster geweiht worden war.
„Erinnerst du dich? Dort vorn an der Ecke hat Chlothar uns damals eingeholt!“, fragte Radegunde.
Agnes, die erhobenen Hauptes neben ihr schritt, nickte. „Ja. Er war noch voller Staub und Blut von der Schlacht gegen Chramn.“
„Möge Gott sich seiner Seele erbarmen!“, seufzte Radegunde.
„Venantius! Stimm noch einmal die Hymne an!“, rief Agnes.
Sofort erklang die Leier und die Frauen fielen ein: „Preise, Zunge, das Geheimnis dieses Leibs voll Herrlichkeit …“
Während eines feierlichen Gottesdienstes setzte Bischof Euphronius das kostbare Reliquiar mit seinem heiligen Inhalt in die Altarnische ein. Von nun an würde der Splitter das sakrale Zentrum aller Messen im Kloster sein, das gleichzeitig den Namen „Zum Heiligen Kreuz“ erhielt. Der Finger des heiligen Mammas bekam einen neuen Platz in einem kleinen Seitenaltar der Kirche.
Radegunde stand mit Agnes vorn in dem überfüllten Oratorium. Voller Genugtuung betrachtete sie das funkelnde Kästchen in der Altarnische. Dabei schweiften ihre Gedanken in die Zukunft. Sie musste das Kloster schützen, vor missgünstigen Bischöfen oder vor der Zersetzung durch inneren Streit. Maroveus war ihr eine deutliche Warnung. Und wenn sie und Agnes einmal nicht mehr waren, wer weiß, welche umtriebigen Kräfte dann dem Kloster schaden könnten! Sie nahm sich vor, einen Brief an die Bischofsversammlung zu schreiben, in dem sie um den besonderen Schutz ihrer Stiftung bitten würde.
Der Bischof erhob seine Stimme zum „Credo“, die einfallenden Stimmen der Kirchenbesucher rissen sie aus ihren Gedanken. Sie senkte den Kopf und schlug das Kreuz.
Nach der Messe feierten die Nonnen mit ihren Gästen im Refektorium. Vor dem Tor des Klosters wurde für alle Bewohner der Stadt Bier ausgeschenkt und es wurden kleine Haferküchlein verteilt.
„Nun hast du alles erreicht, was du wolltest!“, sagte Giso und hob seinen Krug Bier.
Sie zog die Augenbrauen hoch. „Alles erreicht? Oh nein! Draußen vor der Mauer muss noch die Begräbniskirche für die Nonnen fertiggestellt werden. Sie wurde sträflich vernachlässigt zugunsten des heiligen Splitters! Die Mühle ist auch noch nicht fertig. Es wird Zeit, dass wir unser eigenes Mehl mahlen.“ Sie grübelte, dann beugte sie sich zu ihm. „Du bist der Erste, dem ich davon erzähle. Ich beabsichtige, für diesen himmlischen Diamanten eine noch größere Kirche im Inneren der Klostermauern zu bauen. Das Oratorium wird allmählich zu klein. Es werden viele Leute kommen, die bei uns beten wollen.“
„Das erklärt auch den Groll des Maroveus gegen euer Kloster, er befürchtet, dass ihm die Schäflein weglaufen!“
„Dann soll er sich nicht aufführen wie ein hungriger Wolf!“, fauchte Radegunde. „Er wird noch bereuen, dass er uns seine Missgunst so deutlich gezeigt hat!“
„Gebietet dein Gott nicht Nächstenliebe auch gegenüber dem ärgsten Feind?“, stichelte Giso.
„Schon, aber er macht es einem nicht immer leicht“, seufzte sie.
Eine Weile hingen sie beide ihren Gedanken nach.
„Für deinen Kirchenbau oder deine Mühle, brauchst du da nicht
Weitere Kostenlose Bücher