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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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wie zu Anfang, als ich innerhalb weniger Wochen den Durchschnitt der Klasse um fast eine ganze Note anhob –, sondern »die
     Stimme«. Und ich
hatte
etwas zu sagen, zu allem und zu jedem. Was auch immer die Fragestellung war, ich meldete mich, und wenn auch nur, um die Frage
     in anderer Formulierung zu wiederholen – ein klasse Trick, der zwar nicht immer funktionierte, aber meine Präsenz in den Köpfen
     der Lehrer verdichtete –, welches Thema auch zu referieren war, ich meldete mich, allerdings nicht, ohne einen Mitreferenten
     zu erstreiten, den ich dann die Recherche-und Basisarbeit tun ließ, um wohlklingend die akustischen Lorbeeren einzuheimsen.
     Zu meiner Ehrenrettung muß zweierlei gesagt werden: Erstens hätte ich es auch alleine gekonnt, aber ich war zu faul, außerdem
     war es nicht wirklich nötig. Zweitens verhalf ich damit vielen Klassenkameraden zu unerwarteten Erfolgen, denn Leute, die
     sich sonst niemals freiwillig ins Rampenlicht vor der grünen Tafel gestellt hätten, bekamen plötzlich gute Noten für meinen
     Vortrag, wie ich umgekehrt für ihre Vorarbeit. Diese Konstellation reichte allerdings kaum aus, meine soziale Position in
     der Klasse zu verbessern, aber daran hatte ich auch überhaupt kein Interesse. Die Schule war nur deshalb wichtig, weil meine
     despotische Mutter und mein bescheuerter Vater wie die Habichte darüber wachten, insbesondere meine Mutter. Meine Klassenkameraden |12| interessierten mich nicht, das waren alles Holzköpfe, Schläger, Schreihälse, Gummistiefelträger; ich wurde zweimal Schulsprecher,
     um mich selbst zu vertreten (und weil ich so gerne vor Publikum redete), nicht sie, diese Weicheier, die mich wählten, weil
     meine Rede beeindruckte, und es fünf Minuten später schon wieder bereuten.
    Meine Klassenkameradinnen interessierten mich noch nicht, ich war ja erst zehn, elf, elfeinhalb, mit fünfeinhalb Jahren eingeschult,
     meine sexuelle Bewußtwerdung lag in der Zukunft, jedenfalls größtenteils.
     
    Dafür war mir etwas anderes bewußt.
     
    Meine Schwester, das vierte Familienmitglied, sieben Jahre älter als ich, kraushaarig, krausköpfig, despotisch wie meine Mutter,
     stur, halsstarrig – aber mir gegenüber zärtlich und schützend, jedenfalls gelegentlich, wenn es nicht um das verhaßte Geschirrspülen
     oder die Verteilung der Sitzplätze vor dem Fernseher ging –, sollte ein eigenes Zimmer bekommen. Bis zu diesem Zeitpunkt,
     und da war sie immerhin knapp sechzehn, hatten wir einen Raum und ein Doppelstockbett geteilt (eine nicht immer uninteressante
     Erfahrung für mich, vor allem, wenn ich mich schlafend stellte, um sie beim An-oder Ausziehen beobachten zu können, oder
     wenn sie im Bett unter mir masturbierte, was ich erst später begriff, mich aber schon beim anfangs ängstlichen Zusehen durch
     die Spalte zwischen Bettgestell und Lattenrost faszinierte), weil das Haus zwar ausreichend Platz bot, dieser aber für ein
     Eßzimmer, ein Arbeitszimmer und eine sogenannte Werkstatt genutzt wurde – werden
mußte
. Letzteres war eigentlich eine Art Ein-Mann-Pinte: Zwischen weitestgehend nutzlosem Werkzeug, Massen von Schrauben, Muttern
     und diesem Krempel in allen Größen und Formen, keine Ahnung, wo das alles herkam, hockte mein hutzliger, kleiner, adlernasiger,
     fast kahlköpfiger, insgesamt sehr unansehnlicher Vater und atmete einen Schnaps nach dem anderen ein, wochentags ab |13| fünf, wenn er von seinem namen-und bedeutungslosen Verwaltungsjob heimkam, und am Samstag ab morgens; sonntags war immer
     Ausflug, da wurde unterwegs gesoffen, sozusagen ambulant. Er saß da, stundenlang, sortierte und polierte Schrauben, die nie
     ein Mensch benötigen würde, am wenigsten er selbst mit seinen beiden linken Händen, klapperte ewig mit einer komischen Maschine,
     aus der beschriftete Plastikstreifen kamen, und beklebte Kisten und Kistchen, kleine Schränke – Sperrmüll. Und alle paar Plastikstreifen,
     alle paar Schrauben goß er sich einen Korn ins Gesicht, oder ein Bier, zwischendrin rauchte er Unmengen Zigaretten,
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, während meine Mutter irgendwo durchs Haus wuselte und alles so richtete, daß es den bestmöglichen Eindruck auf die Besucher
     machen würde, die selten zu uns kamen; Besucher waren grundsätzlich nicht sehr gerne gesehen, wenn aber, mußte alles
picobello
sein, wie sie zu sagen pflegte. Die Tatsache, daß es einen Haufen nutzloser Räume gab – niemand arbeitete je im Arbeitszimmer
     –, aber nur ein

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