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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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über mich. Eigentlich hätte mir längst der Kragen platzen sollen, ich hätte jetzt, an dieser Stelle, gewalttätig
     werden müssen. Oder ohnmächtig. Clemens Ziegler war ein pubertäres Schauspieler-Imitat, der gerade eine dieser neuen, brechreizerregenden
     Vorabendserien verlassen hatte, unter großem Tohuwabohu. Und wer sollte die Nachrichten sprechen?
Pamela Anderson
?
    »Ich bin einunddreißig«, blaffte ich, nach kurzem Nachrechnen. »Willst du damit sagen, daß ich zum alten Eisen gehöre? Nur
     noch als Co-Moderator tauge für einen Milchbubi, der seinen Schwanz immer noch ausschließlich zum Pinkeln benutzt?«
    Vögler zuckte die Schultern, ohne die Geste durch irgendeinen Gesichtsausdruck zu unterstützen, und sagte: »So leid es mir
     tut: Aus Sicht unserer neuen Zielgruppe – ja.«
     
    Das Gespräch war vorbei, beendet, einfach so: Es gab nichts mehr zu sagen, zum Abschluß überreichte er mir ein Memo, und ich
     nahm es mit flatternden Händen entgegen: Zum elften August, dem ersten Schultag nach den Sommerferien, also in drei Wochen,
     würde
101.1 FM PowerRock Berlin
zu einem dieser Nullachtfünfzehn-Teenie-Dinger werden, Rotation |26| verkürzt auf sechshundert Titel, nahezu vollständiger Wechsel der Moderatoren (wie lange war das schon in Vorbereitung?),
     und, und, und. Teambesprechung am kommenden Montag. Welches
Team
? Es gab hier kein verfluchtes Team mehr. Vögler hatte uns verschachert, an
Nike-Radio, Cola-FM
oder so, und er hatte mich abgeschlachtet, mitten auf dem Höhepunkt meines Erfolges.
     
    Erst als sich seltsame Flecken auf dem fotokopierten Memo ansammelten, merkte ich, daß ich weinte.

|27| 3. Last Night A DJ Saved My Life
1969 –1972
    Radio hatte mich schon immer fasziniert. Vermutlich, ich weiß es nicht, habe ich schon als Säugling staunenden Auges vor einem
     dieser Wunderapparate gelegen, aus denen Leute sprachen und Musik kam, ohne daß man Köpfe oder Instrumente sah, die hätten
     da auch überhaupt nicht reingepaßt.
    Meine Mutter ließ das Radio in der Küche und den teuren Stereoapparat im Eßzimmer den ganzen Tag lang laufen. Während sie
     arbeitete, summte sie die Melodien mit, sang aber glücklicherweise nie, denn obwohl sie eine opernsängerinnenmäßige Figur
     hatte, war ihre Stimme quälend unmelodisch und piepsig. Sonntags, bevor wir unseren obligaten Ausflug unternahmen, kurz nach
     dem Mittagessen, war eine bestimmte Radiosendung heilige Pflicht: Schweigen und Mitraten waren angesagt, wenn der selige Dalli-Dalli-Hans
     Rosenthal das »Klingende Sonntagsrätsel« moderierte, eine müde, tödlich langweilige, schlager-und operettenbetonte Ratesendung,
     bei der es darum ging, aus den Buchstaben einzelner Titel oder Interpretennamen irgendein Lösungswort zu bilden. Ich weiß
     nicht mehr, was es zu gewinnen gab und ob wir beziehungsweise meine Mutter diesen Gewinn je einfuhren, überhaupt teilnahmen,
     aber mitgeraten wurde in jedem Fall. Das »Klingende Sonntagsrätsel« und die »ZDF- Hitparade «, das waren die beiden kulturellen Fixpunkte in unserem Familienleben. Gleichzeitig stellten diese beiden Glanzlichter deutscher
     Sechziger-Jahre-Medienkultur die einzigen Versuche meiner Eltern dar, uns irgendwie in dieser Hinsicht zu beeinflussen. Natürlich
     waren Rocksänger
Kroppzeug
, war jede Musik jenseits von Schlager und Volksgetümele reines Geschrei, Affen-und Urwaldmusik, waren die Träger langer
     Haare Gesindel, Drogenkarriere vorprogrammiert. Zumindest das stimmte, in einigen Fällen. Die |28| Einflußnahme endete jedenfalls bei Heck und Rosenthal, und was wir sonst hörten, blieb uns überlassen, solange wir es weitgehend
     für uns behielten. Von einer eigenen Auswahl beim Fernsehen war nicht zu träumen, zu keiner Zeit, schließlich gab es lediglich
     drei Programme plus zwei Ostkanäle, die zwar eingestellt, aber tabu waren, und auch nur einen Schwarzweißfernseher, den niemand
     bedienen durfte, natürlich mit Ausnahme meines Vaters, selbst meine Mutter nur in Ausnahmefällen. Fernsehen ohne Beisein der
     Eltern war schlicht verboten.
    Mir war eigentlich egal, was ich hörte, musikalisch gesehen, zu diesem Zeitpunkt jedenfalls. Die Schlagerikonen aus den Sendungen
     für Leute, die nur mit Stützrädern laufen können, fand ich schleimig und langweilig, aber ich ertrug es. Die paar Radioprogramme,
     die es damals gab und deren Sprache ich verstand (wir hatten zwar BFBS, BBC und AFN in Berlin, aber die hörte ich erst viel,
     viel

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