Radio Nights
|9| 1. Rats In The Cellar
1969 –1972
Ich schlug das Buch zu und hob gleichzeitig den Blick zum Publikum. Ein paar Sekunden lang passierte nichts, es hatte wohl
noch keiner begriffen, daß ich fertig war, und dann kam der Applaus. Lange, begeistert,
stehend
in einigen Fällen. Ich lächelte, deutete eine Verbeugung an – wie es mir meine Lehrerin empfohlen hatte –, nahm das dicke,
schwere Märchenbuch unter den Arm und ging zurück auf meinen Platz in der ersten Reihe, neben den sieben Konkurrenten, die
schon gelesen hatten und in deren Gesichtern die Erkenntnis der eigenen Chancenlosigkeit geschrieben stand, vermischt mit
der natürlichen panischen Angst, vor so vielen Leuten aufzutreten, aufgetreten zu sein, daneben die beiden armen Schweine,
die meine Leistung jetzt zu toppen hätten. Aussichtslos, nach meinem Dafürhalten, oder wohl auch objektiv betrachtet. Bevor
ich mich setzte, sah ich zu meiner Lehrerin hinüber, die drei Reihen weiter saß und verzückt lächelte, beide Hände innig vor
der Brust gefaltet, und ebenfalls ein Nicken andeutete. Und das, obwohl wir uns gegenseitig ums Verrecken nicht ausstehen
konnten.
Natürlich gewann ich.
»Du hast eine
wunderschöne
Stimme«, erklärte die fette, grauhaarige Politikerin, die die Schirmherrschaft über den Wettbewerb hatte, als sie mir den
häßlichen Pokal überreichte. »Und du liest wahnsinnig schnell, dabei doch so deutlich und fesselnd«, sagte der Typ mit dem
zottligen Bart und der Riesennarbe auf der Wange, der auch irgendwie wichtig war. Dabei nickte er beeindruckt mit dem Kopf
und starrte mich an, als wäre ich ein Weltwunder. Ich hatte tatsächlich sehr schnell gelesen, das – weitgehend unbekannte
– estnische Märchen, das ich vorgetragen hatte, handelte von |10| einem Kampf und einer Verfolgungsjagd durch das Labyrinth in den Gewölben eines Schlosses: Rasanter Vortrag paßte da gut.
Als ich zurückkam, wieder in die Schule, am nächsten Tag, waren alle meine Mitschüler total superstolz auf mich. Der kleine
Zwist, den es einen Monat vorher bei dem Schulendscheid gegeben hatte, weil sie eigentlich einen anderen nominieren wollten
– einen, der zwar schlechter las, aber mehr Sympathien auf seiner Seite hatte –, der war vergessen, jedenfalls, was sie betraf.
Ich feixte mir einen. Diese charakterlosen Nullen. Zwei Tage später war das Schuljahr vorbei, und damit meine Zeit an der
Grundschule. Ich machte die symbolischen drei Kreuze; diese Arschlöcher wollte ich nie mehr wiedersehen, und ich sah sie auch
nie mehr wieder. Je jünger man ist, um so härter zieht man soziale Grenzen, um so deutlicher ist man in seiner Be-oder Mißachtung
anderer, um so brutaler sind die
Strukturen
und die Mechanismen der Zuneigung, die sich andere erkämpfen, oder der Abneigung, gegen welche die anderen ankämpfen müssen.
Das war eine meiner Lehren aus der Grundschulzeit.
Niemand mochte mich so richtig, und mir ging es mit den anderen ganz ähnlich. Als ich acht Jahre alt war, zu Beginn des dritten
Schuljahres, ungefähr zu dem Zeitpunkt, an dem meine bewußte Persönlichkeitsbildung begann, zogen wir aus einer kleinen Wohnung
in einer noblen, gutbürgerlichen Gegend in ein größeres Haus in einer weniger noblen, wenn auch etwas hübscheren Gegend: nach
Britz, in den grüneren südlichen Teil des gefällereichen Berliner Bezirks Neukölln. Meine schulischen Leistungen waren zuvor
eher durchschnittlich gewesen, wenn auch gehobener Durchschnitt, was zu einem gut Teil daran lag, daß mich die Schule eher
überhaupt nicht interessierte – es wäre mir leichtgefallen, besser zu sein. In der neuen Penne gehörte ich sofort zur Elite,
oder vielmehr: Ich stellte sie dar, sie
bestand
aus mir. |11| Der Rückstand meiner neuen Klassenkameraden auf den Stoff, den ich, praktisch von einer Elite-Grundschule kommend, schon hinter
mir hatte, war enorm, und gleichzeitig machte es die diffusere soziale Struktur den wenigen guten irrsinnig schwer, sich von
den schlechten abzusetzen – von mir selbst abgesehen. Was besonders fatale Auswirkungen auf das Leistungsniveau der Klasse
hatte, war meine Fähigkeit, aus dem Stegreif über alles und jeden wohlklingende Reden zu halten. Meine Schlagfertigkeit und
Eloquenz, insbesondere aber meine Stimme – die angeboren war und bis dahin keine Ausbildung erfahren hatte – wurden rasch
zur lokalen Legende. Man nannte mich bald nicht mehr »Profes sor « –
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