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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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weniger ausgeprägte Fähigkeit der Verdrängung durch Gewohnheit. Dinge, Umstände oder eben Geräusche, die anfänglich maßlos stören, verlieren sich nach und nach in den Untiefen unserer Gewöhnungsfähigkeit. Wohl eine der wichtigsten Voraussetzungen menschlicher Entwicklung. Denn wie sonst, wenn nicht durch Gewohnheit und Anpassung, sollte es möglich sein, dass Menschen unter Umständen existieren können, die eigentlich jedem Wohlbefinden zuwiderlaufen. Ignoranz, gepaart mit einer gesunden Portion Anpassungsfähigkeit − und plötzlich verliert die Kälte Grönlands, eingepackt in einen dicken Pelz, ihren Schrecken. Triste Wohnsilos der Großstädte verwandeln sich, sobald der Fernseher eingeschaltet ist, in das frische Grün der Welt und selbst der bitter-beißende Geruch des eigenen Partners lässt sich irgendwann ertragen. Menschen verdrängen, was sie stört, so sie es nicht ändern können oder die Kraft hierzu fehlt. Und so lässt es sich selbst mit Geräuschen leben, die für den, der sie nicht kennt, die Hölle sind. Menschen leben an Autobahnen und Rangierbahnhöfen, sie arbeiten in Stahlwerken und sie sitzen stundenlang in Zügen und genießen nach einiger Zeit sogar das unablässige Rütteln und das rhythmische Tatack-Tatack des dahinjagenden Ungetüms. Und sie ignorieren das monotone Surren und Brummen laufender Düsentriebwerke.
    Erst als ihr Vater sie darauf aufmerksam machte, fiel Sybilla die Stille auf. Und jetzt, da sie die Stille wahrnahm, bekam diese etwas Beängstigendes. Es war nicht nur das Nichtvorhandensein eines Geräusches, es waren die Informationen und Tatsachen, die das Gehirn mit diesem Geräusch verband. Waren das Heulen und Jaulen der Triebwerke zu hören, funktionierten diese, trieben die Maschinen an und rasten ihrem Ziel entgegen. Aber ebenso eindeutig fielen die Schlussfolgerungen aus, wenn die Triebwerke schwiegen.

4
    07:07 Uhr, Wellendingen
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    Susanne Faust versuchte den Schock, den der Flugzeugabsturz zurückgelassen hatte, mit Routine zu bekämpfen. Sie war mit Lea ins Haus zurückgekehrt und hatte das Kind an den Tisch gesetzt. Dann räumte sie die Spülmaschine ein und, als sie den Knopf drückte und nichts passierte, wieder aus. Sie öffnete den Wasserhahn, um das Geschirr vom Frühstück von Hand zu spülen aber aus dem Hahn kam nur ein kurzes, heiseres Fauchen, einige Tropfen Wasser, dann nichts mehr. Susanne starrte den Wasserhahn an. Schließlich packte sie Leas Schulbrote ein und machte sich mit ihr, wider besseres Wissen, auf den Weg in die kleine Dorfschule. Sie ahnte, dass der Unterricht heute ausfallen würde, aber sie hatte Eva versprochen, die Kleine zur Schule zu bringen. Die Dorfschule für die erste und zweite Klasse lag im Zentrum des Ortes, unmittelbar neben dem Geburtshaus von Konstantin Fehrenbach, dem großen Sohn Wellendingens, der in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts für ein paar Monate Reichskanzler sein durfte. Oder musste.
    Im Süden, über der kleinen Hochebene, die »Obere Alp« genannt wurde, dort wo das Flugzeug vor wenigen Augenblicken abgestürzt war, mäanderten Rauchschwaden in den Himmel und wer darauf wartete, dass Sirenen in Wellendingen oder dem nahen Bonndorf Ret-tungsmannschaften zusammenschrien, der wartete vergebens. Es blieb still.
    Frieder Faust war nach dem ersten Schrecken ebenfalls ins Haus zurückgerannt. Er hatte Bubi noch tief schlafend im Bett vorgefunden und ihm die Decke weggerissen.
    Die Probleme zwischen ihnen hatten begonnen, als der Bengel anfing zu pubertieren, und das war ziemlich spät gewesen. Vor sieben Jahren hatte Bubi die ersten Pickel bekommen sowie jeweils ein dunkles Haar an seinem Kinn und am Ansatz seines damals wie heute unbedeutenden »Ladykillers«, wie er ihn nannte. Damals war er bereits fünfzehn gewesen. Ein Alter, in dem andere ihre Pubertät gerade abschüttelten wie die zu eng gewordene Haut der Kindheit und sich mit stolzgeschwellter Brust langen Zöpfen und knospenden Brüsten zuwandten. Aber nicht Bubi.
    »Komm!«, befahl Faust. »Mach, dass du rauskommst!«
    Bubi, aus dessen Bett es streng nach Schlaf und Masturbation roch, rollte sich wie ein Embryo zusammen. »Das Bewerbungsgespräch ist auf nächste Woche verschoben«, knurrte er verschlafen und tastete mit geschlossenen Augen nach seiner Decke.
    »Vergiss das Bewerbungsgespräch. Auf der Oberen Alp ist ein Flugzeug abgestürzt. Irgendwo zwischen Golfplatz und Mauchen, schätze ich.«
    Bubi war plötzlich hellwach.

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