Raumzeit - Provokation der Schoepfung
Ladenstraßen. Hier können sie alles kaufen, wonach ihnen der Sinn steht: wohlriechende Essenzen und Schminke aus Ägypten, Kupferschmuck aus dem Magan, edle Stoffe und Silberwaren aus Melukha, dem Industal.
All das bringen die sumerischen Handelsschiffe in die blühenden Städte an der Mündung des Euphrat. Im Dunst des schwülheißen Sommertages erhebt sich die von zwei mächtigen Mauern umgebene, steil aufragende Zikkurat – der Tempelturm des Enki, des Herrn des süßen Wassers, der Erde und des schöpferischen Geistes.
Eine sumerische Legende berichtet, dass Enki und seine Gefährten von einer anderen Welt zur Erde kamen, um am Rande der Sümpfe des fruchtbaren Mesopotamien das »fern erbaute Haus«, die Stadt Eridu, zu errichten. Sie hätten die Menschen in allerlei Künsten und Wissenschaften unterwiesen. In den ersten Universitäten werden Geographie und Botanik, Zoologie, Mineralogie, Architektur und Mathematik, Astronomie, Astrologie, Theologie und Recht, Medizin, Literaturwissenschaft sowie Politologie gelehrt.
In einer Kneipe am Maschu-Boulevard sitzen fünf Männer in einer lockeren Runde zusammen und trinken gemütlich Bier und Wein. Mit ihrer Kleidung aus fein gewebtem Königslinnen, an den Rändern verziert mit farbigen, golddurchwirkten Borten, gehören sie offensichtlich der besseren sumerischen Gesellschaftsschicht an. Ihre mit feinem, wohlriechenden Öl eingeriebenen Haare sind sorgfältig zu kunstvollen Flechten und Locken frisiert.
Die Augen sind durch einen Schminkstrich ausdrucksvoll betont. Auf dem sorgfältig gearbeiteten Tisch steht eine Platte mit Datteln, Feigen und Fladenbrot. Stimmen von überall, Gelächter brandet immer wieder auf. In einer Ecke des Lokals bemüht sich ein verzweifelter Musikant, mit seiner Lyra den Lärm zu übertönen. Der untersetzte Wirt balanciert schwitzend große Platten mit gebratenen Hühnern, Käse und Früchten in Honig durch das überfüllte Lokal.
Nachdem er die letzte Platte abgesetzt hat, geht er zu dem Tisch mit den fünf Männern, verbeugt sich leicht und fragt servil: »Haben Sie noch Wünsche? Kann ich noch etwas bringen?« Einer der Herren winkt ab und wendet sich wieder seinen Gesprächspartnern zu:
»Ich habe heute eine komplizierte Operation durchgeführt. Ihr werdet es nicht glauben, ich musste ein ganzes Stück aus der Leber rausschneiden, denn das Gewebe war deutlich verfärbt.«
»Ja, ja, ihr Mediziner! Operation gelungen – Patient tot!«, sagt einer der Männer und verzieht sein Gesicht zu einem ironisehen Lächeln.
»Nein, nein, dem Patienten geht es gut!«, wehrt der Chirurg ab.
»Du, als Dichter, kannst gut reden. Aber hier geht es um Wissenschaft. Und besonders bei der Medizin oder der Mathematik und gerade in meinem Fachbereich, der Astronomie, geht es um genaue Beobachtung, um Präzision, um die Wirklichkeit.« Der gut aussehende Naturwissenschaftler nimmt einen tiefen Schluck von seinem Bier.
»Vergesst aber bitte nicht, dass das wissenschaftliche Fundament von den Igigi-Annunaki-Göttern gelegt wurde«, sagt der Theologe eindringlich und zeigt mit dem Finger nach oben.
»Und du gehörst zur Priesterhierarchie und ihr habt eh das Sagen«, spöttelt der Dichter.
»Was mir eher Sorgen macht, sind die neuen Spannungen zwischen den Stadtstaaten. Vor allem mit Uruk und Lagasch«, sagt schmallippig-besorgt der Finanzbeamte in der Runde.
»Ja, wie immer«, wirft der Mediziner ein, »geht es hier um Macht und Besitz.«
»Und die Stadtgötter konkurrieren untereinander«, fügt der Astronom hinzu. »Anstatt die Vereinigung der Stadtstaaten zu einem großen Ken-Gir voranzutreiben, liegen sich Götter und Könige in den Haaren.«
»Wir müssen in den Tafelhäusern, in den Schulen, bei den Kindern bereits ein nationales Bewusstsein fördern, aber die oberste Instanz, Enki, darf nicht außer Acht gelassen werden«, belehrt der Theologe. »Seit der Sohn des Anu, Enlil, die Me-Tafeln des Schicksals mit den verschiedenen Wissenszweigen zu unserem Segen einsetzte, haben wir gewaltige Fortschritte gemacht.«
»Die Heimatwelt, Nibiru, hinter dem roten Planeten, muss ein großartiger Ort sein«, sagt der Mediziner.
»Ja, unsere Welt ist nicht die einzige im All«, bestätigt der Astronom und spielt mit seinen Bartlocken.
Der Dichter nimmt einen Schluck Wein. »Es heißt, die Annunaki verständigen sich im Himmel und auf der Erde mit einem strahlenden, einem flüsternden Kristall.« Fragend blickt er den Theologen an.
»Ja, die
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