Ravinia
flieÃenden Bewegung den Hut aus den Händen.
»Wenn du dich hier als Tourist auf dem Friedhof umschauen willst, bitte schön, mir ist es einerlei«, sagte sie seufzend, während sie den Hut wieder auf ihrem Kopf platzierte. »Ansonsten sieh zu, dass du wieder verschwindest!«
Damit wandte sie sich von ihnen ab und wieder ihrer Heckenschere zu.
»Elisabeth Joel!«, begann Tom.
Wieder blickte die alte Frau auf.
»Sie sind Tom, oder? Schön, dass Sie ihre Lehrzeit gut überstanden haben. Ich hoffe, Sie kommen mit Ihrem Leben zurecht. Wenn nicht, ist es schade, aber lassen Sie mich bitte mit meinem Leben zurechtkommen. Allein!«
So leicht lieà Tom sich allerdings nicht irritieren, während es Lara längst die Sprache verschlagen hatte. Was konnte einem Menschen widerfahren sein, dass er seine eigene Enkelin verleugnete? Was? Was um alles in der Welt konnte Menschen derart verändern?
Der Himmel lieà erneut ein tiefes, drohendes Grollen vernehmen, und einige Regentropfen spritzten vereinzelt ihre nassen Spuren auf Haar und Hände der Anwesenden.
»Mrs Joel, ich bitte Sie«, fuhr Tom eindringlich fort. »Wir sind hier, um Sie zu warnen. Sie in Sicherheit zu bringen.«
Da begann die alte Frau â die eigentlich Lara McLanes GroÃmutter hätte sein sollen, jedoch vergessen hatte, wie es gewesen war, sein eigenes Enkelkind auf dem Arm zu spüren â zu lachen. Sie lachte und lachte, während der Himmel über ihr donnerte und ihr Lachen auf schaurige Weise verstärkte. Vielleicht klang es in ihren eigenen Ohren wie das Lachen einer Belustigten. In den Ohren aller anderen Anwesenden klang es wie das irre Lachen einer Wahnsinnigen, das verzweifelte Lachen eines Menschen, den man beinahe zu Tode gequält hatte.
Lara schüttelte sich. Sie ekelte sich auf einmal vor der Frau, von der sie sich Minuten zuvor noch erhofft hatte, sie könne ein weiteres Puzzlestück zu ihrer Vergangenheit sein.
War das der Preis für ihre Tat vor fünfzehn Jahren? War das der Preis für alle Zwickmühlen, für alle Verzweiflungstaten?
Vor Laras geistigem Auge zog auf einmal vorbei, mit wem sie es zu tun hatte. Baltasar hatte angefangen, Geheimnisse wie Briefmarken zu sammeln. Milton St. James hatte sich vom Tageslicht zurückgezogen. Nicolaesâ Leben war eine grausige Farce. Der alte Howard Evans hatte es ohnehin nicht lange überlebt. Lediglich Keiko Ito schien ohne einen gröÃeren Schaden, aber dennoch mit deutlichen Skrupeln, davongekommen zu sein.
Und ihre eigene GroÃmutter war irrsinnig darüber geworden, was man ihr angetan hatte? Was sie hatte tun müssen?
SchlieÃlich beruhigte sich die alte Frau wieder und fokussierte Tom streng mit ihren müden Augen.
»Sie wollen mich retten, Tom? Vor wem oder was wollen Sie mich noch retten, junger Mann?«, fragte sie schneidend.
Im selben Moment kam eine weitere Windböe und fegte ihr erneut den Strohhut vom Kopf. Diesmal jedoch schien der Luftstrom ihn zu tragen. Der Hut änderte die Richtung und flog über den Circle of Lebanon, bis er auf der anderen Seite von einer Hand aufgefangen wurde. Sie drehte und wendete den Hut, und der Mann, dem die Hand gehörte, betrachtete ihn interessiert. SchlieÃlich lieà er ihn fallen und blickte zu ihnen hinüber.
»Ja, Tom Truska«, sagte er mit einer Stimme, die Lara noch Jahre später das Blut in den Adern gefrieren lassen sollte. »Vor wem wollen Sie eigentlich irgendjemanden retten?«
Manchmal ist es, als würde die Dunkelheit den Himmel dazu einladen, zu regnen.
Doch nicht die Dunkelheit der Nacht, wenn der Regen leise und sanft gegen das schräge Dachfenster trommelt und die Kinder darunter besser schlafen lässt, zugedeckt mit ihren warmen Decken aus Zuversicht. Nein, es ist die Dunkelheit der Seelen, es sind die Grausamkeiten, welche die menschlichen Abgründe hervorbringen, die letztlich selbst den Himmel verzweifelt über sich weinen lassen.
Ein Donnern durchzuckte den ganzen Norden von London, insbesondere die Stadtteile Hampstead und Highgate. Dann begann es zu regnen, leise, kontinuierlich, bis auf die Knochen erweichend.
Da stand er.
Roland Winter.
Er war überraschend jung, dachte Lara. Zumindest in seiner derzeitigen Verfassung. Vielleicht eine Handvoll Jahre älter als Tom. Vielleicht auch vierzig, aber wen kümmerte das im Moment?
Er trug einen langen Mantel aus
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