Ravinia
Zigarettenschachtel und fing missmutig an, sie zu rauchen.
»Das ist nicht fair«, murrte Lara vor sich hin.
Von hinten legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Sie wandte den Kopf und sah Tom.
»Die Wahrheit ist nicht immer fair«, meinte er. Es klang, als hätte sich seine Stimme irgendwo zwischen Bedauern und Resignation verhakt. »Manche Menschen sind nicht dafür geboren, dass die Wahrheiten ihres Lebens angenehm auf sie herabscheinen.«
Seine Hand glitt ab, aber Lara war schon dankbar genug dafür, dass Tom sich überhaupt dazu hatte hinreiÃen lassen, ihren Ausflug nach London in Gang zu setzen. Vielleicht war es auch für ihn eine Art Befreiungsschlag gewesen. Die alte Generation verlor das Sagen in Ravinia, oder sie hörte einfach auf zu sein und übertrug die Verantwortung automatisch auf die Jüngeren, von denen es so wenige gab in diesen Zeiten.
Baltasar bog paffend von der Southwood Lane in eine kleinere StraÃe ab, die anderen folgten ihm. SchlieÃlich blieb er vor einem groÃen Eckhaus stehen.
Nach einer Weile des Wartens blaffte er ungeduldig: »Nun mach schon irgendwer! Ich werde jedenfalls nicht klingeln.«
Tom zögerte nicht und drückte auf ein von langen Regengüssen rostiges Klingelschild, auf dem klein und in geschwungener Schrift der Name Joel stand. Sie hörten das Klingelgeräusch bis nach drauÃen, und Laras Herz schlug ihr bis zum Hals, denn gleich würde sie ihrem ersten leiblichen Verwandten gegenübertreten â abgesehen von Henry McLane.
Doch nichts geschah.
Auch nach erneutem Klingeln nicht. Niemand öffnete die Tür.
Tom warf einen Blick in die Runde.
»Sollen wir reingehen und nachsehen?«
Alle nickten stumm, also förderte Tom seine Dietriche zutage und öffnete das Schloss der schweren Eichentür im Handumdrehen.
»Möchtest du mit reinkommen?«, fragte er Lara, doch die schüttelte nur den Kopf. Nein, wenn es zu spät war, dann wollte sie ihre GroÃmutter nicht beim ersten Treffen als Leiche sehen, denn zu diesem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, dass ihr das vielleicht am Ende lieber gewesen wäre.
Geneva und Kommissar Falter gingen an Tom vorbei ins Haus, Tom folgte ihnen. Die Nachtwächterin hatte ihren Köcher von der Schulter gleiten lassen und hielt ihn nun in der Hand, bereit, jederzeit die Waffe zu ziehen.
Doch nach einigen Augenblicken traten sie wieder vor die Tür.
»Nichts«, meldete Geneva. »Keine Verwüstung, keine Zeichen von Fremdeinwirkung.«
»Die Frage ist also«, sagte Tom und sah dabei ganz unverwandt seinen Meister und Arbeitgeber Baltasar an, »wo Mrs Joel sonst sein könnte.«
Baltasar blickte zu Boden.
»Auf dem Friedhof.«
»Auf dem Friedhof? Highgate Cemetery?«, vergewisserte sich Tom.
»Ja. Dort verbringt sie beinahe ihr ganzes Leben.«
Der alte Friedhof von Highgate lag einige StraÃen weiter südlich, und so machten sie sich auf den Weg dorthin, mitten durch das Viertel voller uralter, wispernder Villen und ebenso uralter Bäume.
Der Himmel über ihnen schien sich für einen Moment ein wenig zu entspannen, das Grau war nicht mehr ganz so düster.
Doch niemand bemerkte den Raben, der still und leise über ihnen seine Kreise zog und mit wachsamen Rabenaugen jeden ihrer Schritte verfolgte.
Manchmal ist die Welt verwunschen.
Sie betraten das westliche Friedhofsgelände durch das groÃe Gatter, das Tom â wie heute schon andere Türen â mühelos zu öffnen imstande war. Baltasar hatte die Vermutung geäuÃert, Laras GroÃmutter sei wohl am ehesten auf dem Westfriedhof anzutreffen, da dieser für Touristen geschlossen sei.
Hinter dem Friedhofstor wartete eine andere Welt, während das Wetter innezuhalten schien. Stille legte sich für einen Moment über die Wege, die sich vor der eigenartigen Gruppe auftaten, mit der Lara McLane unterwegs war. Die Aufgabe war klar. Sie mussten Elisabeth Joel finden, bevor Roland Winter es gelang.
Während ihrer Fahrt mit der Underground von South Kensington nach Highgate hatte Tom gemeinsam mit Hermann Falter Ãberlegungen angestellt, wie Winter die alten Meister hatte ausfindig machen können. Im Falle von Nicolaes war die Sache einfach. Der alte Maler hatte schon so unzählige Jahre in seinem Turm verbracht, dass sein Aufenthaltsort Winter noch vor dessen Fall bekannt gewesen sein konnte. Wie er in den
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