Rebecka Martinsson 02 - Weisse Nacht
Krankenwagen?«, fragt Anna-Maria.
»Ist unterwegs«, antwortet irgendwer.
Anna-Maria schaut nach oben. Jetzt setzt der Regen ein. Sie müssen den Leichnam auf dem Boden zudecken. Mit einer Plane oder so etwas.
Rebecka tritt einen Schritt zurück. Sie bewegt die Hand vor ihrem Gesicht, als müsse sie dort etwas vertreiben.
Dann geht sie los. Zuerst schwankt sie auf das Haus zu. Dann macht sie taumelnd kehrt und steuert stattdessen den Fluss an. Sie könnte genauso gut mit verbundenen Augen gehen, sie scheint nicht zu wissen, wo sie ist oder wohin sie geht.
Dann prasselt der Regen richtig los. Anna-Maria spürt die Herbstkühle wie einen kalten Luftschwall. Die Kälte schwappt über den Hofplatz. Mit dichtem, kaltem Regen. Tausend Nadeln aus Eis. Anna-Maria zieht den Reißverschluss ihrer blauen Jacke hoch. Jetzt muss sie sofort eine Plane für den Leichnam besorgen.
»Pass auf sie auf«, ruft sie Tommy Rantakyrö zu und zeigt auf die davontaumelnde Rebecka Martinsson. »Lass sie nicht an die Waffen im Haus heran, und auch nicht an eure eigenen. Und lass sie nicht zum Fluss hinuntergehen.«
Rebecka Martinsson überquert den Hofplatz. Im Kies liegt ein toter, toter, toter großer Junge. Eben saß er noch mit einem Keks in der Hand im Keller und fütterte eine Maus.
Es weht. Der Wind dröhnt in ihren Gehörgängen.
Der Himmel füllt sich mit Kratzspuren, mit tiefen Rissen, die ihrerseits von schwarzer Tinte gefüllt werden. Regnet es? Hat es angefangen zu regnen? Sie hebt fragend ihre Hände gen Himmel, um zu sehen, ob die nass werden. Ihre Ärmel rutschen zurück, entblößen die schmalen Handgelenke, die Hände sind wie nackte Birken. Ihr Schal fällt ins Gras.
Tommy Rantakyrö rennt mit Rebecka Martinsson um die Wette.
»Hör mal«, sagt er. »Nicht zum Fluss. Gleich kommt der Krankenwagen und…«
Sie achtet nicht auf ihn. Stolpert weiter zum Ufer hinunter. Jetzt findet er die Lage unangenehm. Die Frau ist unangenehm. Weit aufgerissene Augen in diesem leeren Gesicht. Er will nicht mit ihr allein sein.
»Tut mir leid«, sagt er und packt ihren Arm. »Ich kann nicht… du darfst da einfach nicht hingehen.«
Jetzt birst die Erde wie eine verfaulte Frucht. Jetzt nimmt jemand ihren Arm. Es ist Pastor Vesa Larsson. Er hat kein Gesicht mehr. Ein brauner Hundekopf sitzt auf seinen Schultern. Die schwarzen Hundeaugen sehen sie anklagend an. Er hatte Kinder. Und Hunde, die nicht weinen können.
»Was willst du von mir?«, schreit sie.
Und da steht Pastor Thomas Söderberg. Er zieht tote Säuglinge aus dem Brunnen. Bückt sich und hebt einen nach dem anderen auf. Hält sie mit dem Kopf nach unten, an der Ferse oder dem kleinen Fußgelenk. Sie sind nackt und weiß. Ihre Haut ist aufgedunsen und wässrig. Er wirft sie auf einen großen Haufen. Der wächst und wächst vor seinen Füßen.
Als sie herumfährt, steht sie Auge in Auge mit ihrer Mutter. Die so rein ist und so fein.
»Rühr mich bloß nicht an«, sagt sie zu Rebecka. »Hast du gehört? Weißt du überhaupt, was du getan hast?«
Anna-Maria Mella hat eine Matte gefunden. Damit will sie Lars-Gunnars Jungen zudecken. Es ist nicht so leicht zu erraten, was der Technik am liebsten wäre. Sie muss außerdem Sperren aufstellen lassen, ehe der ganze Ort hier zusammenströmt. Und die Presse. Verdammt, warum muss es denn jetzt auch noch regnen! Zu allem Überfluss, während sie nach Sperren ruft und mit der Matte über den Hof läuft, sehnt sie sich nach Robert. Nach dem Abend, wenn sie in seinen Armen weinen kann. Weil alles so unbeschreiblich schrecklich und sinnlos ist.
Tommy Rantakyrö ruft, und sie dreht sich um.
»Ich kann sie nicht halten«, ruft er.
Er ringt auf der Wiese mit Rebecka Martinsson. Sie fuchtelt mit den Armen und schlägt wild um sich. Reißt sich los und rennt zum Fluss hinunter.
Sven-Erik Stålnacke und Fred Olsson stürzen hinterher. Anna-Maria kann erst reagieren, als Sven-Erik sie fast eingeholt hat. Fred Olsson kommt einen Schritt hinter ihm. Sie fangen Rebecka ein. Sie windet sich in Sven-Eriks Armen wie eine Schlange.
»Aber, aber«, sagt Sven-Erik mit lauter Stimme. »Aber, aber.«
Tommy Rantakyrö hält sich die Hand unter die Nase. Ein Blutfaden sickert zwischen seinen Fingern hindurch. Anna-Maria hat immer Papier in der Tasche. Immer muss bei Gustav etwas abgewischt werden. Eis, Banane, Rotz. Sie reicht Tommy ein Taschentuch.
»Leg sie auf den Boden«, ruft Fred Olsson. »Wir müssen sie fesseln.«
»Hier wird nicht
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