Sturm über Hatton Manor
1. KAPITEL
“Dachtest du wirklich, ich würde dich nicht erkennen?”
Faith Mills war so schockiert, dass sie wie erstarrt dastand.
Nash!
Was machte er hier? Lebte er nicht in Amerika und leitete das Imperium, das er aufgebaut hatte? Jedenfalls hatte sie das in der einschlägigen Presse gelesen. Nein, er war tatsächlich hier – fast einen Meter neunzig groß und mit einer geradezu animalischen Ausstrahlung. Die Erinnerung an diesen Mann hatte sie in den letzten zehn Jahren nicht nur tagsüber, sondern auch in ihren Träumen gequält.
“Du hast unseren Wohltäter noch nicht kennengelernt, stimmt’s, Faith?”
Ihren
was
? Soweit Faith wusste, hatten dessen Treuhänder das große, etwa hundert Jahre alte Herrenhaus an die karitative Organisation, für die sie arbeitete, übergeben. Falls sie auch nur einen Moment angenommen hätte, dass Nash … irgendwie schaffte sie es, nicht zu schaudern und dadurch einen alles andere als professionellen Eindruck zu machen.
Die Ferndown-Stiftung, von dem mittlerweile verstorbenen Großvater ihres Chefs Robert Ferndown gegründet, bot den Familien vorübergehende Unterkunft, die sich gerade in einer finanziellen Notlage befanden. Die Stiftung besaß Häuser in verschiedenen Teilen Englands, und als Faith die Anzeige gesehen hatte, in der ein qualifizierter Architekt oder eine qualifizierte Architektin gesucht wurde, der beziehungsweise die dem Geschäftsführer direkt unterstellt wäre, hatte sie die Stelle unbedingt haben wollen. Aufgrund ihrer Herkunft hatte sie großes Mitgefühl mit Kindern, die in schwierigen Verhältnissen lebten.
Sie verspannte sich, als sie Nash antworten hörte.
“Faith und ich kennen uns bereits.”
Zorn und Angst überkamen Faith. Sie fürchtete sich vor dem, was er sagen könnte, und wusste, dass es ihm richtig Spaß machte, sie zu verletzen und ihr zu schaden. Und trotzdem hatte er das Herrenhaus Robert zufolge mit den anderen Treuhändern ihrer Organisation gestiftet. Eine so großzügige Geste traute sie ihm eigentlich gar nicht zu.
Faith spürte, wie Robert sie anblickte und auf eine Antwort wartete. Es war allerdings nicht sein Schweigen, das sie so aus der Fassung brachte. Grimmig rief sie sich ins Gedächtnis, was sie bereits alles ertragen und überlebt hatte, was sie im Leben erreicht hatte und wie viel sie den wunderbaren Menschen schuldete, die sie unterstützt hatten.
Einer dieser Menschen war ihre inzwischen verstorbene Mutter gewesen, und der andere … Als Faith sich im Arbeitszimmer umblickte, konnte sie das vertraute Gesicht des Mannes, der sie so inspiriert hatte, förmlich vor sich sehen, ebenso wie … Sie schloss die Augen, als Schmerz und Schuldgefühle sie überkamen. Dann öffnete sie sie wieder, jedoch ohne Nash zu beachten. Natürlich wollte er, dass sie sich ihm zuwandte und seine Feindseligkeit spürte.
“Es ist lange her”, sagte sie heiser zu Robert. “Über zehn Jahre.”
Die Angst lähmte sie völlig, sodass Faith sich Nash hilflos ausgeliefert fühlte und nur auf den ersten Schlag wartete. Sie wusste, dass Robert über ihre zögerliche Reaktion enttäuscht gewesen war, als er ihr eröffnet hatte, dass er ihr freie Hand bei der Umgestaltung von Hatton House ließe.
“Es ist einfach ideal für unsere Zwecke”, hatte er begeistert erklärt. “Drei Stockwerke, ein großes Grundstück und Stallungen, die zu Wohnungen umgebaut werden können.”
Natürlich hatte sie ihm den wahren Grund für ihr Zögern nicht nennen können, und nun würde Nash es zweifellos für sie tun.
Das Klingeln von Roberts Mobiltelefon riss sie aus ihren Gedanken. Während Robert den Anruf entgegennahm, lächelte er sie an. Er hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er sich für sie interessierte, und darauf bestanden, dass sie ihn zu verschiedenen halb offiziellen Anlässen begleitete, an denen er als Sprecher der Stiftung teilnehmen musste. Allerdings war ihre Beziehung bisher rein platonisch gewesen, und sie hatten noch nicht einmal ein richtiges Rendezvous gehabt. Faith war jedoch klar, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Robert sie einlud – zumindest war es das bis zu diesem Augenblick gewesen.
“Tut mir leid”, entschuldigte er sich, nachdem er das Gespräch beendet hatte. “Ich muss sofort nach London zurückfahren. Es gibt ein Problem beim Umbau von Smethwick House. Aber Nash wird sich bestimmt um dich kümmern, Faith, und dir das Haus zeigen. Ich komme spätestens morgen zurück, denn heute schaffe ich es wohl
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