Rebecka Martinsson 05 - Denn die Gier wird euch verderben
überkommt. Diese Rastlosigkeit, diese Einsamkeit.
Hjalmar Lundbohm sitzt mit halb geschlossenen Augen da und scheint zu träumen.
Ich möchte ihn küssen, denkt sie und staunt selbst über dieses Herzensbegehren.
Sofort sagt sie sich, dass das natürlich Dummheiten sind. Sie hat ihn doch gerade erst kennengelernt. Er ist so viel älter. Und dick noch dazu.
Aber als sie diese schweren halb geschlossenen Augenlider sieht und den Mund, der sich ein wenig schmerzlich verzogen hat, als er eben mit seiner ruhigen Stimme einen anderen die Worte für seine Sehnsucht finden ließ, da sieht sie einen jungen Mann in ihm, ja, einen Knaben. Sie will ihn kennenlernen. In jedem Alter. Sie will alles wissen. Sie wird ihn küssen. Ihn besitzen.
»Großer Gott«, sagt Flisan. »›Auf der Suche nach Wein und Mädchen.‹ Ja, das ist genau wie mein Johan Albin. Ehe er mich kennen gelernt hat. Jetzt trinkt er nicht mehr. Aber hört mal, ich habe schließlich auch Bücher.«
Sie holt ihren Beitrag zum Bücherregal aus einer ihrer Truhen.
Hjalmar Lundbohm reißt sich aus seinen Träumen und schnaubt zufrieden, als er Titel liest wie Hinter geschlossenen Jalousien und Die Süße der Sünde .
Er rückt seinen Kneifer zurecht, sucht eine Weile aufs Geratewohl und liest dann vor: »Leopold legte sachte den Arm um sie und ließ die weiße Rose in Hunderten von einzelnen Blättern ihren Hals hinabgleiten. Schönste, flüsterte er und blickte schmachtend in ihre zu ihm aufschauenden Augen. Dann küsste er sie mit einem langen, brennenden Kuss.«
Nun ist es an Flisan, die Augen zu schließen und zu lauschen, als säße sie in der Kirche.
»Herrlich!«, ruft sie, als er fertig ist.
Hjalmar Lundbohm lächelt belustigt.
»Ach was«, sagt Elina. »Sie lachen über Damen- und Dienstmädchenromane? Denn von der Sorte habe ich auch so einige.«
Sie packt etliche Pakete mit Groschenromanen aus. Sie hat Detektivgeschichten über Sherlock Holmes und Nick Carter und natürlich die Bücher des schwedischen Entdeckers Duse über den Detektiv Leo Carring. Sie hat Abenteuergeschichten, Wildnisromantik und Kriminal- und Liebesromane von Jenny Brun, Schwedens meistgelesener Autorin.
Jetzt ist die Luft gesättigt von Bällen, Erbschaften, Giftmorden, Tagelöhnerstöchtern, die zu vornehmen Damen werden, Wiedergängern, Opiumhöhlen, Goldgräberleben, Piraten, Grabschändern, verratener Liebe, verbotener Liebe, von zerstörten Hoffnungen, Spionage, Eifersucht, Gewissensqualen, Engelmacherinnen, Schwindeleien, Rache, Wüstenscheichen, Verführern, geheimnisvollen Fremden, unschuldig Verurteilten, Hypnotiseuren, Automobiljagden, Eisbären, menschenfressenden Tigern, unwiderstehlichen Ärzten, gewissenlosen Verbrechern, einsamen Inseln im Stillen Ozean, Nordpolexpeditionen, Gefahren, Verzweiflung und glücklichen Enden.
Sie lesen die Klappentexte laut vor und bewundern die knallbunten Umschläge.
»So viele unsittliche Schundliteratur«, sagt Hjalmar Lundbohm und lächelt Elina zu.
Sie senkt den Kopf und gibt zu, dass sie rettungslos verloren ist.
Da gähnt Flisan laut und deutlich. Hjalmar Lundbohm springt auf, als ob sie in eine Trompete geblasen hätte.
»Ich werde mir bald auch die restlichen Bücher ansehen«, sagt er mit aufgesetzter Autorität und zeigt auf die übrigen braunen Pakete unten in Elinas Koffer.
Vor dem Fenster fällt jetzt dichter Schnee.
»Schon wieder«, seufzt Flisan.
Hjalmar verabschiedet sich. Flisan und Elina machen die ausklappbare Küchenbank zurecht. Als sie ihre Nachthemden angezogen haben, fallen sie ins Bett.
»Ich muss schon sagen, du kannst putzen und lachen«, murmelt Flisan in Elinas Ohr. »Du bist eine richtige Gottesgabe.«
Beide schlafen sofort ein.
Hjalmar Lundbohm wandert durch das Schneegestöber nach Hause. Kein Mensch ist unterwegs. Er ist seltsam hochgestimmt. Schon lange hat er sich nicht mehr so gut unterhalten. Mit seiner eigenen Haushälterin und der neuen Lehrerin.
Laut sagt er ihren Namen. Was ist er doch kindisch. Der Name kommt nicht weit. Die tanzenden Schneeflocken verschlucken seine Stimme.
»Elina«, sagt er.
R EBECKA M ARTINSSON KLOPFTE an Krister Erikssons Tür. Er wohnte im Hjortväg in einem braunen Holzhaus mit vier Zimmern. Es war nett von ihm, sich um Marcus zu kümmern. Sie wollte wissen, wie es ihnen ergangen war. Aus dem Haus war ein Chor von bellenden Hunden zu hören.
Sie ging hinein, hockte sich hin und begrüßte alle. Tintin behielt würdevoll alle vier Pfoten auf
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