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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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allmählich begreife ich, daß er weniger essen, vielmehr trinken will, und bekomme es mit der Angst zu tun, daß unsere mäßigen Alkoholvorräte seinem Bedürfnis nicht gewachsen sein würden. Eine Flasche Wodka wird gerne angenommen, Nordhäuser Korn lehnt er ab: Seine Großmutter habe ihn davor gewarnt, es sei dasselbe wie Nortak-Tabak. Dann schon lieber Ihren vorzüglichen Gin. Im Gegensatz zu seiner sonstigen Höflichkeit, sogar Förmlichkeit, bedient er sich selbst. Und wird allmählich lockerer, beginnt sogar von seinen Empfindungen
zu sprechen: Hier bei uns wisse er zum ersten Mal nicht, welche Rolle er spiele; sonst komme er zu alten Freunden oder zu alten Feinden, die alle ihre Vorstellung von ihm hätten, hier sei er eigentlich gar nichts und benehme sich ganz falsch. Protest läßt er generell nicht gelten.
    Mich streift eine Ahnung, wie einer lebt, der sich in jedem Augenblick bewußt ist, daß er eine Rolle spielt. Und was für eine Spannung in ihm entstehen muß, wenn zwei Rollen miteinander streiten: An diesem Nachmittag ist es nach meiner Meinung die Rolle des höflichen, wißbegierigen Gastes und die eines übergenauen Kontrolleurs. Kein Wunder, wenn diese Spannung sich, auch bei anderen Gelegenheiten, manchmal in einem Ausbruch entlädt.
    Im Lauf des Nachmittags zeigt sich, daß er jede Äußerung, jedes Schweigen von mir genau registriert und oft falsch gedeutet hat. Einer Korrektur mißtraut er. Auch versteht er manchmal nicht unsere Art von Ironie: Als ich mit normaler Stimme in einem normalen Satz »unsere Menschen« sage, glaubt er, mich bei einer ernstgemeinten Phrase ertappt zu haben. Er erzählt, wie man ihm seine Ironie in Mecklenburg abgewöhnt habe, als man ihm angesichts seines Erstaunens über im August noch nicht abgeerntete Felder ins Gesicht hinein behauptet hätte: Wir mähen eben nur sonntags.
    Sein eigentliches Interesse gilt unserem Verhältnis zur DDR und seinem Verhältnis zur DDR . Wie müßte der Satz heißen, will er wissen, der, parallel zu Brechts Vorschlag: Minsk ist die langweiligste Stadt der Welt, über die DDR geschrieben werden sollte, um anzuzeigen, daß man über alles offen schreiben könne: Ich kann oder will keinen einzelnen Satz formulieren; etwas von einer »vertanen Chance« müßte darin vorkommen, meine ich, Johnsons Vorschläge weise ich als zu apodiktisch zurück. Ich muß wohl das Wort »Dialektik« verwendet haben, er sagte plötzlich: Auch er bemühe sich ja, Marxist zu sein.
    Er fragt viel. Er setzt sich in seiner Phantasie eine Eisenbahnerfamilie zusammen, Vater, Mutter, zwei Kinder, die in Leipzig
leben sollen. Er will alles über sie wissen. Ich habe das Gefühl, ihm nichts Neues sagen zu können, er nennt Einzelheiten, die mir unbekannt sind. Zwischendurch, bei negativen Schilderungen, wird er ironisch und belehrt uns: Das glaube er nicht. Er lese ja schließlich das Neue Deutschland .
    Dann wieder fühlt man sich wie in einer Prüfung vor einem anspruchsvollen Examinator: Er fordert Geschichten, die ich schreiben müßte. Das könne doch besonders ergiebig sein vom Standpunkt dessen, der einmal geglaubt habe. Ob es für mich kein Problem gewesen sei, in die Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft einzutreten. Ob die Arbeiter sich hier wirklich als sozialistische Eigentümer fühlten. In der Bundesrepublik könnten sie jedenfalls um ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen kämpfen. Hier hätten sie doch keine Mitbestimmung. Aber – das ist sein großer Vorbehalt gegenüber dem Land, das er vor fünfzehn Jahren gegen die DDR eingewechselt hat (er sei nicht freiwillig gegangen, sondern »verdrängt« worden, und im Westen verteidige er die DDR !), sein Vorbehalt also: daß das Dritte Reich in der Bundesrepublik noch immer nicht überwunden sei.
    Es scheint, als argwöhne er, wir würden es ihm verübeln, daß er die DDR verlassen hat, und er müsse diesen Schritt verteidigen. Dafür sind ihm negative Belegstücke aus unserem Leben recht. Dann wieder sucht er doch noch nach Anlässen für Hoffnung. Wann also könne dieser Satz geschrieben werden, der die DDR das langweiligste Land der Welt nenne. Geschrieben – jederzeit, sage ich. Gedruckt – kaum. Johnson sagt: Aber dann seh ich schwarz.
    Der Gin ist alle. Große Diskussion um die Rückfahrt. Er traut unseren Auskünften nicht, am liebsten würde er selbst einen Fahrplan studieren, er läßt den ersten Zeitpunkt für die Abfahrt verstreichen, wir bringen ihn zum nächsten Zug. Zum

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