Reid 2 Die ungehorsame Braut
wie sie wohl reagierte. Sie starrte ihn ungläubig an, wusste nicht, was sie darauf entgegnen sollte. Selbst wenn ihr etwas eingefallen wäre, hätte sie keinen Ton herausgebracht, so dick war der Kloß in ihrem Hals. Waren das Tränen, die sich in ihren Augen sammelten?
»Ich werde dir jetzt etwas sagen, das selbst deine Mutter nicht weiß«, fuhr er fort. »Ich hatte keine sonderlich leichte Kindheit. Meine Eltern schickten mich auf die besten Schulen, auf die die Reichsten der Reichen ihre Kinder schickten. Ich habe es gehasst. Jungen können unglaublich grausam sein. Ständig haben sie mir unter die Nase gerieben, dass ich nicht zu ihnen gehöre. Kannst du dir das vorstellen? Ein Sohn von Adel, der ausgegrenzt wurde.«
Es war, als hätte er eine Zeitreise in seine Jugend unternommen und wäre von seinen alten unangenehmen Erinnerungen eingeholt worden. So langsam ahnte sie, warum er ihr das alles erzählte.
»Du hast nie von draußen hereinblicken müssen, Papa. Dein Titel ist doch so gut wie jeder andere.«
»Ich weiß. Irgendwann bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass es sich um reine Eifersucht handelte, weil meine Familie über mehr Reichtum verfügte als die anderer Jungen, deren Titel über meinem rangierten. Aber ich wollte um jeden Preis dazugehören, wollte nicht außen vorstehen. Dieser brennende Wunsch ist nie versiegt - bis du geboren und mit jedem Jahr hübscher und hübscher wurdest. Du warst der Schlüssel zu meinem Glück. Also habe ich dich vorgeführt, vielleicht einige Male zu viel. Die Bewunderung, die wir deinetwegen ernteten, die anerkennenden Blicke und das ständige Schulterklopfen, ich konnte gar nicht genug davon bekommen. Das hat mich für all die Jahre entschädigt, in denen ich mir minderwertig vorkam. Jetzt ist mir jedoch klar geworden, wie selbstsüchtig es von mir war, dich in eine soziale Position zu drängen, für die du noch nicht bereit warst. Ich war einfach nur so verflixt stolz auf dich, Pheli.«
»Du warst nicht stolz auf mich, Papa«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Du warst stolz darauf, dass ich deine Tochter bin. Das solltest du nicht verwechseln.«
Er senkte den Kopf. »Du hast recht. Erst jetzt, wo ich dich um ein Haar für immer verloren hätte, sind mir die Augen geöffnet worden. Ich habe eingesehen, dass ich mich, was deine Erziehung betrifft, nicht gerade mit Ruhm bekleckert habe. Mehr als einmal hat deine Mutter deswegen das Gespräch mit mir gesucht, aber es hat immer in einem Streit geendet. Ich habe einfach nicht auf sie gehört, war viel zu sehr gefangen in meinem deplatzierten Stolz. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Aber das geht natürlich nicht. Wenigstens ist es noch nicht zu spät, meinen jüngsten Fehler auszumerzen.«
»Was meinst du damit?«
»Ich weiß, dass du mit der Hochzeit, die ich erzwungen habe, alles andere als glücklich bist.«
»Du hast mich nicht dazu gezwungen, Papa.«
»Natürlich habe ich das. Ich habe dir befohlen, Locke zu heiraten, und dafür gesorgt, dass ganz London es auch erwartete.«
Sie schenkte ihm ein trauriges Lächeln. »Wann bin ich je deinen Anweisungen gefolgt? Meist habe ich doch genau das Gegenteil davon getan. Mein aufbrausendes Gemüt ist schuld daran, dass Rafe sich genötigt fühlte, mich vor den Magistrat zu schleifen. Es hatte nichts mit dir zu tun.«
Mit leicht gehobenen Brauen räusperte er sich. »Mag sein, aber es gibt keinen Grund, warum du in dieser Ehe gefangen bleiben musst. Das Verhalten deines Gemahls ist bis jetzt alles andere als glorreich gewesen. Deshalb glaube ich auch nicht, dass es bei der Annullierung der Ehe Schwierigkeiten geben dürfte.«
Ophelia konnte ihr Erstaunen kaum verbergen. »Du wärst bereit, kampflos darauf zu verzichten, zu einer herzoglichen Familie zu gehören?«
»Pheli, ich bin zu der Einsicht gekommen, dass es hier um dein Leben geht. Du sollst glücklich sein. Der Titel war nicht nur für mich, musst du wissen. Hin und wieder sprechen deine Mutter und ich über dich, ohne dass wir uns streiten. Ich weiß, dass du mehr wie sie sein möchtest, dass du dir nichts sehnlicher wünschst, als die berühmteste Gastgeberin Londons zu sein. Mit Lockes Titel wärst du deinem Traum ein großes Stück näher gekommen.«
Sie seufzte. Wie unwichtig das alles war. Im Moment sehnte sie sich in erster Linie nach gedünstetem Fisch, in der Hoffnung, dass er ihr Übelkeit bescherte.
Sie spürte, wie ihr abermals die Tränen in die Augen stiegen, und
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