Reid 2 Die ungehorsame Braut
überwältigen. Ob sie sich an alles erinnern würde, sobald sie aufwachte? Was hinderte sie bloß daran, wach zu werden?
»Die Wunden werden verheilen, aber die Narben werden bleiben. Ich bin untröstlich.«
Die Stimme war ihr fremd. Welche Narben? Und warum weinte die Frau? Dann wurde das Geräusch leiser.
»Der Arzt meinte, du sollst versuchen, den Schmerz zu verschlafen. Das wird dir helfen, meine Liebe.«
Diese Stimme kam ihr bekannt vor. Ihre Mutter. So langsam gewöhnte sie sich an die warme Flüssigkeit, die ihr die Kehle hinunterglitt. Konnte es sein, dass ihr starke Medikamente verabreicht wurden? Kein Wunder, dass sie nicht richtig erwachte, geschweige denn sprechen konnte. Ehe sie jedoch weiter darüber nachdenken konnte, glitt sie wieder in einen tiefen Schlaf.
Das Wechseln der Verbände ging mit unerträglichen Schmerzen einher - Kopf, Wange, Schultern. Die Schmerzen waren so groß, dass sie nach kurzer Zeit wieder in die Bewusstlosigkeit abglitt und nicht mitbekam, wie viele Verbände sie insgesamt trug. Der Kopf schmerzte am meisten. Das dumpfe Pochen wollte nicht aufhören. Es verfolgte sie selbst in ihren Träumen und erinnerte sie daran, dass etwas nicht mit ihr stimmte. Wollte sie wirklich aufwachen, um herauszufinden, was es war?
»Hör auf zu weinen. Verdammt noch mal, Mary, damit hilfst du ihr auch nicht. Was sind schon ein, zwei Narben? So etwas muss doch noch lange nicht das Ende der Welt bedeuten.«
Wieder eine Stimme, die sie zuordnen konnte. Doch sie wünschte sich, sie würde verstummen. Das sanfte Schluchzen ihrer Mutter störte sie nicht. Im Gegenteil, es spendete ihr Trost. Ihre Mutter weinte die Tränen, die ihr selbst nicht über die Wangen laufen konnten. Warum konnte ihr Vater sie nicht in Ruhe lassen?
»Geh weg.«
Hatte sie gerade laut gesprochen oder dachte sie nur, sie hätte gesprochen? Doch schon im nächsten Moment hatte sie die Dunkelheit umschlungen, die sie alles vergessen ließ und die Schmerzen erträglicher machten.
Als es ihr endlich gelang, ein Auge zu öffnen, erkannte sie, dass sie in ihrem Zimmer lag. Ihr Vater saß auf einem Stuhl neben dem Bett, ihre Hand an seine Wange gepresst. Seine Tränen benetzten ihre Finger.
»Warum weinst du?«, raunte sie. »Bin ich gestorben?«
Da er umgehend zu ihr herübersah, lag es nahe, dass sie dieses Mal tatsächlich gesprochen haben musste. Ein Ausdruck tiefer Freude legte sich auf sein Gesicht. Ophelia war sich sicher, Sherman Reid noch nie in ihrem Leben so erfreut erlebt zu haben.
»Nein, mein Engel, du wirst...«
Engel? Einen Kosenamen für sie, aus seinem Munde? »Ist ja auch egal«, fuhr sie ihm ins Wort. »Ich scheine doch noch nicht wach zu sein.« Im selben Augenblick driftete sie wieder ab in die Sphären, in denen sie nichts hörte oder fühlte.
Von da an wurden die Wachphasen jedoch stetig länger, und auch der pochende Schmerz ließ allmählich nach. Es gab sogar Augenblicke, in denen sie völlig schmerzfrei war - vorausgesetzt, sie bewegte sich nicht.
Und dann, eines Morgens, erwachte sie und blieb bei Bewusstsein. Sadie lief geschäftig im Zimmer umher, wie sie es immer tat, legte Holz im Kamin nach, staubte die Tische ab und...
O Gott, sie hatten ein Tuch über den Spiegel gehängt. War die Wunde in ihrem Gesicht so grauenhaft? Hatten sie Angst, sie könnte sie sehen? Voller Entsetzen berührte sie ihren Kopf, ertastete aber lediglich Verbände, die eng anlagen und Wange und Kinn bedeckten.
Einzig die Angst, sich selbst noch mehr Schaden zuzufügen, indem sie die Verbände abriss, hielt sie davon ab. Da sie sich selbst kein Bild davon verschaffen konnte, wie es um ihr Gesicht bestellt war, wollte sie sich bei Sadie erkundigen. Doch ihr blieben die Worte im Halse stecken. Sie hatte Angst vor der Wahrheit. Und dann kamen die Tränen. Sie schloss die Augen und hoffte, Sadie würde alsbald den Raum verlassen, ohne etwas zu merken.
Die Ironie war unfassbar. Ihr ganzes Leben lang hatte sie das Gesicht gehasst, das ihr mit auf den Weg gegeben worden war, und jetzt, wo es deformiert war, konnte sie nicht anders, als zu weinen.
Und genau das tat sie auch, stundenlang. Als Sadie gegen Mittag zurückkam, lag sie einfach nur da und starrte resigniert an die Decke. So schwer es ihr auch fiel, sie würde sich daran gewöhnen müssen, dass sie von nun an entstellt war. Das Letzte, das sie jetzt brauchte, war Mitleid - vor allem ihr eigenes.
»Gott sei Dank sind Sie wach und können endlich etwas zu sich
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