Reifezeit
hierzu inzwischen zuteilgeworden sind. Um herauszufinden, was wir vielleicht an zusätzlichen Erkenntnissen beitragen könnten. Eine zündende Idee würde sie vor dem Untergang bewahren.
F ür den, der in ihr Zimmer tritt und sie erblickt, ist da zunächst nichts als ein Lächeln. Ihr kurzes weißes Haar ist füllig und fein und umflort ein Gesicht, das zum Licht selbst geworden ist. Als junge Frau hatte sie kastanienbraunes Haar, doch in ihren Träumen war sie blond, mit blassem, französischem Teint. Heute schimmert ihr Haar, viel besser noch, perlmuttfarben, wie eine jener Muscheln, die einem die Kinder bringen, weil sie die schönsten, die weißesten sind. Ihre Haut ist makellos und von einer Strahlkraft, die keiner der zahlreichen Altersflecken zu trüben vermag. Mit ihren weicher gewordenen Konturen und ihren Falten, nützlichen Falten und nicht etwa abscheulichen Anzeichen einer versiegten Quelle, die einzig dazu dienen, das Lächeln zu ermöglichen, ist sie liebreizender denn je zuvor. Diese These, dass das Alter die Frauen hässlicher macht, ist das nicht eine der größten Lügen überhaupt?
Sie lächelt. Und ich kenne dieses Lächeln. Es ist das Lächeln ihrer Eltern, das Lächeln, durch das sie, Armenier und Fremde in Frankreich, ihre hehre Gesinnung zum Ausdruck brachten. Jenes Lächeln, mit dem sie vermittelten: »Wir haben Zugang zur Herrlichkeit dieser Welt.« Das Lächeln der ehrbaren Person, die auch den anderen Menschen stets gute Absichten unterstellt. Ein Lächeln auch, das besagt: »Tut mir nicht weh«, »Ich will euch nichts Böses«, »Selbst wenn es mir nicht gutgeht, versuche ich euch hochachtungsvoll zu begegnen«. Ein Lächeln, das den Meinen gleich einem Gen eingepflanzt ist. Das Lächeln einer Person, die in jeder Lebenslage um kultiviertes Benehmen bemüht ist, sofern kultiviertes Benehmen wirklich das ist, was ich mir darunter vorstelle: eine aufgeschlossene, zuvorkommende Art, mit der man anderen begegnet.
Wenn ich als kleines Mädchen ärgerlich war, pflegte meine Mutter zu mir zu sagen: »Komm, schenk mir ein Lächeln.« Ich hatte natürlich keine Lust dazu, ach Gott, mit jeder Faser meines Herzens sträubte ich mich dagegen in meinem Zorn, meinem inneren Zwiespalt und meinem Kummer, sträubte mich mit Händen und Füßen. Aber was sollte ich schon tun angesichts der Bitte meiner Mutter? Sie beugte sich zu mir winzigem Geschöpf herunter und bekniete mich so eindringlich, dass ich mich wie eine Gottheit fühlte, zunächst einmal gesegnet mit der Macht, sie zu verdrießen, und gleich darauf dann mit der hinter meinen destruktiven Anwandlungen aufgekommenen Freude, mich schließlich doch zu öffnen.
U m mich herum gibt es zahlreiche Frauen, die jünger sind als ich und deren Mütter noch dementspre chend bei Kräften sind, arbeiten, sich verlieben und ihre Macht voll entfalten. Diese Frauen sind in dem Alter, in dem eine Mutter noch eine eifrig besorgte Person ist, von der man sich freistrampeln muss. Genörgel von Freundinnen, und ich höre ihnen mit einem liebevollen Gefühl im Herzen zu. Die nervtötende Art, mit der ihre Mütter auf Dingen beharren, diese ganz gewissen Fragen, die sie so meisterlich beherrschen und die einen auf die Palme bringen, diese Bemerkungen zu der Art, wie man sich kleidet, die Haare trägt, der Blick, mit dem Mütter Männer betrachten, ihr Groll gegen den Vater oder auch das neutrale und von Ernüchterung geprägte Bild, das sie einem von ihm vermitteln; die lästigen Verpflichtungen, die einem eine Mutter aufbürdet, Familienessen, Erinnerungen an Geburtstage, Leute, die man dringend anrufen soll – unliebsamer Kram, den eine Tochter umso leichter vergisst, je weniger er ihr am Herzen liegt. Der Klotz am Bein, den eine Mutter darstellt. Ein Klotz, den man hinter sich herschleift. Genau wie ich selbst meinen Klotz über Jahre hinweg hinter mir hergeschleift habe. Ich war der Ansicht, meine Mutter hindere mich daran zu leben, ließe mich nicht los, trage die Schuld an meinen Misserfolgen. Und die Momente, in denen ich über mich selbst hinauswuchs, meine schreiberischen Leistungen und meinen Einfallsreichtum, ja, meine gesamte Existenz, dürfte ich als meinen alleinigen Sieg verbuchen.
In Wahrheit hatte ich im Kindes- und Jugendalter eine so enge Bindung zu ihr, dass sie mir meine beste Freundin war. Nach meiner Mutter hatte ich nie wieder eine »beste Freundin«. Doch so ausgeprägt meine Bindung zu ihr war, so ausgeprägt war auch
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