Reingekracht: Familien-Bullshit-Bingo (German Edition)
dritten Kind. Sie war fünfzehn Jahre älter als ich und stammte aus der ersten Ehe meiner Mutter. Ich hatte nie einen besonders guten Kontakt zu ihr gehabt, da sie bereits ausgezogen war bevor ich in die Schule kam. Sie war für mich eher so etwas wie eine Tante, verwandt, aber gehörte nicht zur Kernfamilie.
Und das war unser Problem. Genauer gesagt, das war das Problem zwischen ihr und Julia. Als Bruder war ich außer Konkurrenz, aber die beiden Frauen waren wie USA und UDSSR im kalten Krieg. Sie hatten die Waffen permanent aufeinander gerichtet, in jedem Satz, den sie durchaus freundlich wechselten, steckte die Drohung, alles eskalieren zu lassen. Es herrschte ein Wettrüsten, wenn auch auf verschiedenen Schauplätzen.
Susi legte mit einem Leben vor, das dem meiner Eltern sehr ähnlich war. Das zweite Mal verheiratet, aus ihrer ersten Ehe zwei Mädchen, die aktuell neun und zwölf Jahre alt waren, einem gut verdienenden Mann, Haus, teurem Auto, Urlauben am Meer. Julia konterte mit einer Wespentaille, fülligem Haar, Karriere und der leidenschaftlich zelebrierten Freiheit einer begehrten Singlefrau. Bis heute.
„Er ist gar nicht ihr Typ“, zischelte mir Susi ins Ohr und musterte Patrick abschätzend. Ich lächelte verzweifelt.
„Wenn er sie glücklich macht?“, gab ich schwach von mir und musterte den Freund meiner Schwester begehrlich. Ich hatte ein ernstes Problem. Die Feier hatte noch nicht einmal begonnen und ich wollte mich jetzt schon am liebsten im Garten eingraben. Susi stieß mit dem Ellenbogen in meine Seite.
„Was ist mir
dir
? Hast
du
jemanden?“, wollte sie wissen.
'Single-Bullshit-Bingo'
-Frage Nummer Eins. Mit versonnenem Blick auf Patricks rotblonde Strubbelfrisur seufzte ich:
„Nicht so richtig.“
„Nino!“, rief Susi, rempelte mich ein weiteres Mal und machte einen Schritt von mir weg, um mich von Kopf bis Fuß zu mustern. „Du bist verliebt! Ich habe es mir gleich gedacht!“, gab sie viel zu laut von sich. Ich schaute mich nervös um, fing Patricks Blick auf und wurde knallrot. Damit bestätigte ich wohl die Unterstellung.
„Es ist nicht … es ist nichts
Relevantes
“, murmelte ich und leerte das Sektglas mit einem einzigen Schluck. Susi musterte mich eingehend. Ich hasste so etwas.
„Hat er einen anderen?“, fragte sie in bedauerndem Tonfall und ich nickte kaum merklich, aber tapfer. Moment. Hatte sie
'er'
gesagt? Woher wusste sie, dass ich schwul war? Onkel Wolf! Ich starrte sie ertappt an.
„Ach Nino, wenn er nicht erkennt, was er an dir hat, hat er dich nicht verdient“, begann sie mich mit abgedroschenen Phrasen zu trösten.
„Hat dir das Onkel Wolfgang gesagt?“, fragte ich misstrauisch und schaute mich um. Er unterhielt sich mit meiner Mutter. Na Prima!
„Was soll er mir gesagt haben?“, wunderte sich Susi, sackte dann in ungläubiger Begeisterung zusammen, machte große Augen und flüsterte in verschwörerischem Tonfall: „Onkel Wolf ist
auch
verliebt?“
„Nein, abgesehen von seiner Fixierung auf Salma Hayek vermutlich nicht“, gab ich von mir. „Ich wollte wissen, ob
er
dir erzählt hat, dass ich, na ja, dass ich auf
Männer
stehe.“ Warum auch immer, das Wort
'Männer'
sprach ich unterdrückt aus als dürfe es sonst niemand hören. Sie starrte mich an als hätte ich sie dabei erwischt, wie sie mit bloßen Händen in eine Torte fasste, bekam rote Flecken auf den Wangen und biss sich auf die Lippen.
„Ups, du hast dich ja noch gar nicht geoutet. Entschuldigung. Ich meine natürlich
'sie'
. Hat …
sie
einen anderen?“, brabbelte sie nervös herum. Ich war mir nicht sicher, ob ich sie richtig verstanden hatte. Ich schnappte sie am Unterarm und führte sie etwas von den anderen weg. Ihr schlechtes Gewissen verbat ihr sich dagegen zu wehren, was mich noch mehr überraschte.
„Woher hast du das?“, zischte ich. Sie zuckte mit den Schultern, ließ den Blick durch den Raum voller Leute wandern und meinte:
„Das weiß doch jeder hier.“
Ich keuchte, mir wurde schwindelig.
„Alles in Ordnung? Willst du dich setzen?“, fragte mich meine hochschwangere Schwester und ich nickte, schüttelte den Kopf, nickte wieder. Wir hielten uns an den Armen fest und schoben uns in vorsichtigen Schritten zum Sofa, ließen uns hinein plumpsen, ganz so, als hätten wir einen achtstündigen Wandertag hinter uns.
Gerd, Susis Mann, kam sofort auf uns zugestürmt, bereit, sein Kind mit bloßen Händen aus dem Leib der Mutter zu zerren (er war Arzt) und erkundigte
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