Reise im Mondlicht
ihn hier überkam, warum hatte er das Gefühl, endlich
heimgekehrt zu sein? Vielleicht hatte er als Kind von so etwas geträumt – als das Kind, das in einer Villa mit Garten gewohnt,
sich aber vor zu großer Geräumigkeit gefürchtet hatte –, oder vielleicht hatte er sich als Halbwüchsiger nach Enge gesehnt, nach Orten, wo jeder halbe Quadratmeter seine eigene
Bedeutung hat, wo zehn Schritte schon eine Grenzüberschreitung darstellen und wo man Jahrzehnte an einem wackligen Tisch oder
sein ganzes Leben in einem Sessel verbringt. Vielleicht, nicht sicher.
Jedenfalls irrte er in den Gäßchen umher, bis er plötzlich merkte, daß der Morgen kam und er auf der anderen Seite von Venedig
war, am Neuen Ufer, wo man auf die Friedhofsinsel hinüberblicken kann und auf die weiter entfernten geheimnisvollen Inseln,
auf San Francesco in Deserto, wo einst die Leprakranken gehaust haben, und noch weiter weg auf die Häuser von Murano. Am Neuen
Ufer wohnen die armen Venezianer, die von den Segnungen des Tourismus höchstens indirekt erreicht werden, hier ist das Krankenhaus,
und von hier legen die Gondeln der Toten ab. Das Viertel begann sich zu regen, einige gingen schon zur Arbeit, und die Welt
war unermeßlich öde, wie immer nach einer durchwachten Nacht. Mihály fand eine Gondel, die ihn nach Hause brachte.
Erzsi war schon längst krank vor Aufregung und Müdigkeit.
Erst um halb zwei war ihr in den Sinn gekommen, daß man, so unwahrscheinlich es klingt, auch in Venedig die Polizei anrufen
konnte, was sie mit Hilfe des Nachtportiers dann auch tat, selbstverständlich ohne Ergebnis.
|10| Mihály glich noch immer einem Schlafwandler. Er war entsetzlich müde und konnte auf Erzsis Fragen nichts Vernünftiges antworten.
»Die Gäßchen«, sagte er, »einmal muß man doch die Gäßchen bei Nacht gesehen haben, das gehört dazu, auch andere tun das.«
»Aber warum hast du nichts gesagt? Oder mich nicht mitgenommen?«
Mihály wußte keine Antwort, er verkroch sich mit beleidigter Miene ins Bett und schlief verdrossen ein.
Das also ist die Ehe, dachte er, so wenig begreift sie, so hoffnungslos ist jeder Erklärungsversuch? Naja, ich versteh’s ja
selbst nicht.
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Erzsi hingegen schlief nicht, sondern lag mit gerunzelter Stirn und unter dem Kopf verschränkten Armen und dachte nach. Im
allgemeinen vertragen die Frauen das Wachen und das Nachdenken besser. Für Erzsi war es weder neu noch überraschend, daß Mihály
Dinge tat und sagte, die sie nicht verstand. Eine Zeitlang hatte sie ihr Unverständnis erfolgreich bemäntelt, hatte klugerweise
keine Fragen gestellt, sondern getan, als wäre sie sich sowieso über alles im klaren, was mit Mihály zusammenhing. Sie wußte,
daß diese schweigende, künstliche Überlegenheit, die Mihály für die angeborene Weisheit der Frauen hielt, das beste Mittel
war, ihn an sich zu binden. Mihály war voller Ängste, und Erzsis Aufgabe war es, ihn zu beruhigen.
Aber alles hat seine Grenzen, sie waren ja jetzt ein Ehepaar, auf seriöser Hochzeitsreise, und unter solchen Umständen eine
ganze Nacht wegzubleiben war doch seltsam. Einen Augenblick kam ihr der natürliche weibliche Gedanke, daß Mihály bei einer
anderen Frau gewesen war, aber sie verwarf ihn gleich wieder, denn das war völlig unvorstellbar. Abgesehen davon, daß die
Sache höchst unanständig gewesen wäre, war Mihály mit fremden Frauen vorsichtig und ängstlich, er fürchtete sich vor Krankheiten,
es reute ihn das Geld, und überhaupt interessierten ihn die Frauen nur mäßig.
Eigentlich wäre es ganz beruhigend gewesen, wenn Mihály bloß einer Frau nachgelaufen wäre. Dann hätte diese Unsicherheit ein
Ende, dieses völlig leere Dunkel, die Unmöglichkeit sich vorzustellen, was Mihály die ganze Nacht getrieben hatte. Und sie
dachte an ihren ersten Mann, Zoltán Pataki, den sie Mihálys wegen verlassen hatte. Erzsi hatte immer gewußt, welche Tippmamsell
gerade Zoltáns Geliebte war, obwohl er sich krampfhaft, |12| errötend und rührend um Diskretion bemühte, aber je mehr er das tat, um so klarer war die Sache. Bei Mihály war es gerade
umgekehrt: Er erklärte jede seiner Gesten peinlich gewissenhaft, war manisch darauf bedacht, daß Erzsi ihn durch und durch
kenne, doch je mehr er erklärte, um so verworrener wurde das Ganze. Erzsi wußte seit langem, daß Mihály Geheimnisse hatte,
die er sich selbst nicht eingestand, während er auch sie, Erzsi, nicht
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