Radikal führen
Einleitung – Worum es nicht geht
Wenn Sie bei einem bekannten Buchversandhandel das Suchwort »Management« eingeben – was schätzen Sie, wie viele Bücher werden Ihnen angezeigt? Fünftausend? Fünfzigtausend?
Es sind über eine halbe Million. Stellen Sie sich das in Regalmetern vor: über eine halbe Million Bücher! Da müsste doch alles zum Thema gesagt sein. Woraus sich die Frage ergibt: Warum sollten Sie ausgerechnet dieses Buch lesen? Die erste Antwort lautet: Weil es vieles weglässt.
Worum es in diesem Buch nicht geht, das soll deshalb hier an erster Stelle stehen. Es geht nicht um eine neue Leadership-Mode. Viele Autoren beschreiben nur einzelne Facetten der Führungsarbeit, die dafür sehr detailliert – aber das Gesamtbild bleibt unscharf. Eine Menge Bücher (meine frühen Werke gehören dazu) machen auch relativ abstrakte Wertgesichtspunkte geltend, um faktisch bestehende Führungsstrukturen im Namen dessen zu kritisieren, was sein »sollte«. Also: Hier finden Siekeine Anekdoten-Promenade, keine Exzellenz-Beispiele, keine Von-XY-lernen-Galerie. Ich mutmaße auch keinen Zusammenhang von Führungs-Stilen, Persönlichkeitseigenschaften und Führungserfolg. Auch zwischen Führung und Management wird nicht unterschieden. Ich gehe davon aus, dass die meisten Manager mit ihren Mitarbeitern in Interaktion treten, also führen, und die meisten Führungskräfte auch werkzeugbasierte Verwaltungsaufgaben erledigen, also managen. Und einem Leader ohne Management-Fähigkeiten wird bald die Luft wegbleiben; einem Manager ohne Leadership-Fähigkeiten fehlt die Richtung. Ebenso unterscheide ich nicht zwischen Mitarbeiter-Orientierung und Aufgaben-Orientierung: Diese Trennung ist in der Praxis künstlich – man braucht eben beide.
Worum geht es dann?
Um diese Frage zu beantworten, will ich eine kurze biografische Bemerkung machen.
Auf der Suche danach, worauf es bei der Führung wirklich ankommt, habe ich mich noch einmal auf die Praxis eingelassen. Für dreieinhalb Jahre übernahm ich wieder operative Verantwortung im Executive Committee eines Unternehmens, das in fast achtzig Staaten etwa 21 Milliarden Euro umsetzt. Ich wollte wieder Führungsalltag spüren, Spreu von Weizen trennen, Unverzichtbares von nur Wünschbarem.
Ich habe viel gelernt, was Führungskräfte tun. Mehr aber habe ich davon gelernt, was sie nicht tun. Was sie unterließen – weil sie es für unwichtig hielten oder einfach nicht wollten oder konnten. Das half mir, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Was mir dabei immer klarer wurde: Die eigentlichen Aufgaben werden von Führungskräften nicht diskutiert, sie werden als selbstverständlich vorausgesetzt: »Um sie muss ich mich auch nicht kümmern – ich bin ja bereits Führungskraft, weil ichaus Sicht meiner Chefs den Aufgaben gewachsen bin.« Sie sehen ihr Handeln in keinem größeren Zusammenhang; sie »managen« halt, das heißt sie »wursteln sich durch«. Das Nachdenken über Aufgaben stört da nur. Und wenn sie über ihr Tun reflektieren, dann über das WIE, über Adjektive wie »kooperativ«, »dialogisch« oder gar »transformatorisch« – nicht über das WAS. Dabei ist dieses WAS keineswegs selbstverständlich, sondern erntet Erstaunen, bringt man es zur Sprache. Es sind keine Kleinigkeiten, die da beiseitegelassen werden. Im Gegenteil. Genau auf diesen blinden Fleck der meisten Führungskräfte will ich mich konzentrieren. Also: Führung ist die Antwort – was war noch mal die Frage?
Dabei gehe ich von folgender Ursprungs-Situation aus: Eine Gruppe von Menschen hat sich zu einem bestimmten Zweck zusammengefunden. Schon bald bildet sich jemand als Führungskraft heraus, je nach Gruppengröße und -dauer entstehen auch Führungsstrukturen. Warum? Was sind »Gründe« für Führung, die sich aus Tatsachen ergeben, nicht aus willkürlichen Zielen? Wie heißt das Problem, für das Führung die Lösung ist?
Ich bin davon überzeugt, dass die Aufgaben von Führung Universalien sind – sie werden auch in vielen Hundert Jahren dieselben sein. Schließlich gab es Führung schon immer – seit Menschen in Gruppen leben. Und auch die neue Welt der Netzwerke und Heterarchien kann ich nicht führerlos denken. Im Gegenteil: Nach nichts sehnen sich die Menschen mehr als nach einer kraftvollen Führungsidee und einem Menschen, der sie verkörpert. Deshalb können wir von einer »arche« sprechen, einem Urprinzip, auf die sich eine »Archeologie« richtet, die es erforscht.
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