Reisen im Skriptorium
damit fängt er an, sobald er sich hingesetzt hat. Das Schaukeln wirkt beruhigend auf ihn, und während Mr. Blank sich dem angenehmen Schwingen hingibt, kommen ihm Erinnerungen an das Schaukelpferd in seinem Zimmer, als er ein kleiner Junge war, und von neuem durchlebt er einige der Phantasiereisen, die er auf diesem Pferd zu unternehmen pflegte, dessen Name Whitey war und das für den jungen Mr. Blank kein weiß angemaltes Stück Holz, sondern ein Lebewesen, ein echtes Pferd gewesen war.
Nach diesem kurzen Ausflug in seine frühe Kindheit steigt ihm wieder die Angst in die Kehle. Mit matter Stimme spricht er vor sich hin: Ich darf das nicht geschehen lassen. Dann beugt er sich vor, um die Papiere und Fotografien zu untersuchen, die in ordentlichen Stapeln auf der Mahagoniplatte des Schreibtischs liegen. Als Erstes nimmt er die Bilder, drei Dutzend zwanzig mal fünfundzwanzigZentimeter große Schwarzweißporträts von Männern und Frauen verschiedener Hautfarben und Lebensalter. Das oberste Foto zeigt eine junge Frau Anfang zwanzig. Ihr dunkles Haar ist kurzgeschoren, und in ihren Augen, die starr in die Kamera blicken, liegt ein gespannter, gequälter Ausdruck. Sie steht auf der Straße, in irgendeiner Stadt, vielleicht in Italien oder Frankreich, denn hinter ihr sieht man eine mittelalterliche Kirche, und da die Frau mit Schal und Wollmantel bekleidet ist, darf man annehmen, dass das Bild im Winter aufgenommen wurde. Mr. Blank sieht der jungen Frau angestrengt in die Augen und versucht sich zu erinnern, wer sie ist. Nach etwa zwanzig Sekunden hört er sich ein einziges Wort flüstern: Anna. Eine Aufwallung überwältigender Liebe durchflutet ihn. Er fragt sich, ob er nicht einst mit Anna verheiratet war oder ob er nicht vielleicht ein Bildnis seiner Tochter betrachtet. Kaum hat er das gedacht, attackiert ihn eine erneute Woge von Schuldgefühlen, und er weiß, Anna ist tot. Schlimmer noch, er vermutet, dass er für ihren Tod verantwortlich ist. Es könnte sogar sein, sagt er sich, dass er sie umgebracht hat.
Mr. Blank stöhnt gepeinigt auf. Der Anblick der Bilder ist zu viel für ihn, also schiebt er sie beiseite und wendet sich den Papieren zu. Es sind insgesamt vier Stapel, jeder etwa fünfzehn Zentimeter hoch. Ohne dass er sich eines besonderen Grundes dafür bewusst wäre, greift er nach dem obersten Blatt des am weitesten linksvon ihm liegenden Stapels. Der mit der Hand, in Blockbuchstaben ähnlich denen auf den weißen Klebstreifen, geschriebene Text lautet:
Aus den fernsten Weiten des Weltraums betrachtet, ist die Erde nicht größer als ein Staubkorn. Bedenke das, wenn du das nächste Mal das Wort «Menschheit» schreibst.
Aus dem angewiderten Ausdruck, der ihm beim Überfliegen dieser Sätze ins Gesicht tritt, können wir mit einiger Sicherheit schließen, dass Mr. Blank die Fähigkeit zu lesen nicht verloren hat. Wer jedoch der Autor dieser Sätze sein könnte, muss vorläufig offenbleiben.
Mr. Blank greift nach dem nächsten Blatt auf dem Stapel und erkennt, dass es sich um ein getipptes Manuskript handelt. Der erste Absatz lautet:
Sobald ich anfing, meine Geschichte zu erzählen, schlugen sie mich nieder und traten mir an den Kopf. Als ich aufgestanden war und aufs Neue zu sprechen anhob, schlug mir einer von ihnen auf den Mund, und ein anderer verpasste mir einen Hieb in den Magen. Ich brach zusammen. Wieder gelang es mir aufzustehen, aber gerade als ich zum dritten Mal mit der Geschichte anfangen wollte, schleuderte mich der Colonel an die Wand, und ich verlor das Bewusstsein.
Auf dem Blatt folgen noch zwei weitere Absätze, doch ehe Mr. Blank den zweiten lesen kann, läutet das Telefon. Es ist ein schwarzes Modell mit Wählscheibe aus den späten vierziger oder frühen fünfziger Jahren desvergangenen Jahrhunderts, und da es auf dem Nachttisch steht, ist Mr. Blank gezwungen, sich von dem weichen Lederstuhl zu erheben und durch den ganzen Raum zu schlurfen. Beim vierten Klingeln nimmt er den Hörer ab.
Hallo, sagt Mr. Blank.
Mr. Blank?, fragt die Stimme am anderen Ende.
Wenn Sie das sagen.
Wissen Sie das genau? Ich kann nichts riskieren.
Ich weiß überhaupt nichts genau. Wenn Sie mich Mr. Blank nennen wollen, will ich gern auf diesen Namen hören. Mit wem spreche ich?
James.
Ich kenne keinen James.
James P. Flood.
Helfen Sie meinem Gedächtnis auf die Sprünge.
Ich war gestern bei Ihnen zu Besuch. Wir haben zwei Stunden miteinander verbracht.
Ah.
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