Der Maedchensammler
1
Calhoun, Georgia
Joe sah zu, wie die Leute von der Gerichtsmedizin die in eine dunkelgrüne Plane gewickelte Leiche vorsichtig aus dem Erdloch hoben.
»Danke, dass Sie gekommen sind, Quinn.« Detective Christy Lollack kam auf ihn zu. »Ich weiß, dass Sie hierfür nicht zuständig sind, aber ich brauche Sie. Das ist ein ganz merkwürdiger Fall.«
»Was ist merkwürdig daran?«
»Sehen Sie mal.« Sie trat an die Bahre, auf der die Leiche lag.
»Die Kinder, die sie gefunden haben, hätten sich beinahe übergeben.«
Er folgte ihr und wartete, bis sie die Plane zurückgeschlagen hatte.
Es gab kein Gesicht. Nur der nackte Schädel war übrig. Doch vom Hals abwärts war die Leiche kaum versehrt und wies nur leichte Anzeichen von Verwesung auf.
»Offenbar wollte jemand unbedingt verhindern, dass man sie identifiziert.« Er betrachtete die Hände der Frauenleiche. »Aber er hat’s vermasselt. Er hätte die Hände abtrennen sollen. Die Fingerabdrücke lassen sich leicht überprüfen. Eine DNS-Analyse dauert etwas länger, aber das wird –«
»Sehen Sie genauer hin. Ihre Fingerkuppen sind verbrannt«, fiel Christy ihm ins Wort. »Keine Fingerabdrücke möglich.
Trevor hatte mir das schon prophezeit.«
»Wer?«
»Irgend so ein Inspektor von Scotland Yard. Mark Trevor. Er hat eine E-Mail ans Department geschickt, nachdem er von dem Fall Dorothy Millbruk in Birmingham gehört hatte, und der Captain hat sie an mich weitergeleitet. Er sagte, er hätte dieselbe Mail an fast alle Städte im Südosten geschickt, um sie vorzuwarnen, dass der Täter womöglich in ihrem Kompetenzbereich auftauchen könnte.«
Millbruk … Der Mord an einer Prostituierten vor vier Monaten, der für ziemliches Aufsehen gesorgt hatte. Joe versuchte, sich an die Einzelheiten zu erinnern. »Zu dem Fall Millbruk besteht kein Zusammenhang. Nicht der gleiche Tathergang. Die Frau wurde bei lebendigem Leib verbrannt und ihre Leiche auf einer Müllkippe abgeladen.«
»Aber nachdem sie verbrannt war, hatte sie kein Gesicht mehr.«
»Es wurde kein Versuch unternommen, sie unidentifizierbar zu machen. Die Polizei von Birmingham konnte problemlos Fingerabdrücke von der Leiche nehmen.« Er schüttelte den Kopf. »Das war nicht derselbe Mörder, Christy.«
»Wie schön, dass Sie sich da so sicher sind«, erwiderte sie sarkastisch. »Denn ich bin es nicht. Mir gefällt das nicht.
Vielleicht will der Täter ja gerade verhindern, dass wir einen Zusammenhang erkennen. Was ist, wenn er ihr Gesicht zerstört hat, damit wir beschäftigt sind und nicht mitbekommen, dass er sich hier in der Gegend herumtreibt?«
»Möglich.« Er schaute sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Was wollen Sie von mir, Christy? Es sieht Ihnen nicht ähnlich, dass Sie jemanden um Hilfe bitten.«
»Sobald die Gerichtsmediziner mit ihr fertig sind, möchte ich, dass Sie den Schädel zu Eve bringen. Sie soll herausfinden, wie die Frau ausgesehen hat. Ich will nicht warten, bis ich herausgefunden habe, wer sie ist.«
Mit dieser Antwort hatte er gerechnet. Es war nicht das erste Mal, dass man ihn bat, als Vermittler zwischen dem Department und Eve zu fungieren. Sie war wahrscheinlich die beste Gesichtsrekonstrukteurin der Welt, und so einen wertvollen Kontakt konnte der Captain nicht ungenutzt lassen. Joe schüttelte den Kopf. »Vergessen Sie’s. Sie weiß jetzt schon nicht, wie sie ihre Arbeit bewältigen soll. Ich werde ihr auf keinen Fall noch mehr aufhalsen.«
»Wir müssen es wissen, Joe.«
»Und ich möchte nicht, dass sie sich noch mehr verausgabt.«
»Himmelherrgott, glauben Sie, ich würde mit dieser Bitte an Sie herantreten, wenn das hier nicht wirklich wichtig wäre? Ich mag Eve. Ich kenne sie und Jane schon fast so lange wie Sie. Ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache. Es ist unbedingt notwendig, verdammt.«
»Bloß wegen eines nebulösen Tipps von Scotland Yard? Was zum Teufel haben die überhaupt mit diesem Fall hier zu tun?«
»Zwei Fälle in London. Einer in Liverpool. Einer in Brighton.
Der Täter wurde nie gefasst, und sie nehmen an, dass er vor drei Jahren aus Großbritannien in die USA gekommen ist.«
»Dann können sie auch warten, bis entweder die DNS-Analyse vorliegt oder bis Eve wieder etwas mehr Zeit hat.«
Christy schüttelte den Kopf. »Kommen Sie mit zu meinem Wagen, dann zeige ich Ihnen Trevors E-Mail.«
»Das wird meine Meinung auch nicht ändern.«
»Vielleicht doch.« Sie ging in Richtung Wagen.
Quinn folgte ihr nach kurzem Zögern.
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