Reisetagebuecher
Haustor verabschieden wir uns; er ist glücklich, daß er mich losgeworden ist; ohne daß ich danach frage, sagt er mir noch, wie man zur Synagoge geht. -
Leute im Schlafrock auf der Türstufe. Alte sinnlose Inschriften. Die Möglichkeiten durchdacht, auf diesen Gassen, Plätzen, Gartenbänken, Bachufern aus dem Vollen unglücklich zu sein. Wer weinen kann, soll am Sonntag herkommen. Abend nach 5 stündigem Herumgehn in meinem Hotel auf der Terasse vor einem kleinen Gärtchen. Am Tisch nebenan die Wirtsleute mit einer jungen, witwenhaft aussehenden, lebhaften Frau. Wangen unnötig mager. Frisur geteilt und aufgebauscht.
8 Juli (1912) Mein Haus heißt "Ruth". Praktisch eingerichtet. 4 Luken, 4 Fenster, 1 Tür. Ziemlich still. Nur in der Ferne spielen sie Fußball, die Vögel singen stark, einige Nackte liegen still vor meiner Tür. Alles bis auf mich ohne Schwimmhosen. Schöne Freiheit. Im Park, Lesezimmer u. s.
w. bekommt man hübsche, fette Füßchen zu sehn.
9 Juli (1912) Gut geschlafen in der nach 3 Seiten freien Hütte. Ich kann an meiner Türe lehnen wie ein Hausbesitzer. Zu den verschiedensten Zeiten in der Nacht aufgekommen und immer Ratten oder Vögel gehört, die um die Hütte herum im Gras kollerten oder flatterten. Der leopardartig gefleckte Herr. Gestern abend Vortrag über Kleidung. Den Chinesinnen wurden die Füße verkrüppelt, damit sie einen großen Hintern bekommen.
9 Juli (1912) Der Arzt, früherer Officier, geziertes, irrsinnig, weinerlich, burschikos aussehendes Lachen. Geht schwunghaft. Anhänger von Mazdaznan. Ein für den Ernst geschaffenes Gesicht.
Glatt rasiert, Lippen zum an einanderpressen. Er tritt aus seinem Ordinationszimmer, man geht an ihm vorüber hinein, "Bitte einzutreten" lacht er einem nach. Verbietet mir das Obstessen mit dem Vorbehalt, daß ich ihm nicht folgen muß. Ich bin ein gebildeter Mann, soll seine Vorträge anhören, die auch gedruckt sind, soll die Sache studieren, mir meine Meinung bilden und mich dann danach verhalten. (Aus seinem gestrigen Vortrag: "Wenn man selbst vollständig verkrüppelte Zehen hat, an einer solchen Zehe aber zieht und dabei tief atmet, so kann man sie mit der Zeit gerade machen."
Nach einer bestimmten Übung wachsen die Geschlechtsteile. Aus den Verhaltungsmaßregeln:
"Luftbäder in der Nacht sind sehr zu empfehlen (ich gleite einfach wenn es mir paßt aus meinem Bett und trete in die Wiese vor meiner Hütte) nur soll man sich dem Mondlicht nicht zu sehr aussetzen, das ist schädlich") Unsere gegenwärtigen Kleider kann man gar nicht waschen!! Heute früh: Waschen, Müllern, gemeinsames Turnen (ich heiße der Mann mit den Schwimmhosen), 36
Singen einiger Choräle, Ballspiel im großen Kreis. 2 schöne schwedische Jungen mit langen Beinen, die so geformt und gespannt sind, daß man nur mit der Zunge richtig an ihnen hinfahren könnte. Koncert einer Militärkapelle aus Goslar. Nachmittag Heu gewendet. Abend mir den Magen so verdorben, daß ich vor Verdruß keinen Schritt machen will. Ein alter Schwede spielt mit einigen kleinen Mädchen Fangen und ist so am Spiel beteiligt, daß er einmal im Laufen ausruft: Wartet, ich werde Euch diese Dardanellen sperren. Meint den Durchgang zwischen 2 Gebüschen. Als ein altes nicht hübsches Kindermädchen vorübergieng: es ist doch etwas, an das man anklopfen könnte (der Rücken im schwarzen weißpunktierten Kleid). Das immerwährende grundlose Bedürfnis, sich anzuvertrauen. Jeden Menschen daraufhin ansehn, ob es bei ihm möglich ist und ob er für sich eine Gelegenheit hat.
10 (Juli 1912) Fuß verstaucht, Schmerzen, Grünfutter aufgeladen. Nachmittag Spaziergang nach Ilsenburg mit einem ganz jungen Gymnasialprofessor Lutz aus Nauheim; kommt nächstes Jahr vielleicht nach Wickersdorf. Koedukation, Naturheilkunde, Kohen, Freud. Geschichte von dem von ihm geführten Ausflug der Mädchen und Knaben. Gewitter, alle durchnäßt, müssen sich in der nächsten Herberge in einem Zimmer vollständig ausziehn. - In der Nacht Fieber vom geschwollenen Fuß her. Der Lärm den die vorüberlaufenden Kaninchen machen. Als ich in der Nacht aufstehe, sitzen auf der Wiese vor meiner Türe 3 solche Kaninchen. Ich träume, daß ich Goethe deklamieren höre, mit einer unendlichen Freiheit und Willkür.
11 (Juli 1912) Gespräch mit einem Dr. Friedrich Schiller, Magistratsbeamter Breslau, der lange in Paris gewesen ist, um die städtischen Einrichtungen zu studieren. Gewohnt in einem Hotel mit der Aussicht in den
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