Revelations
Sharons Durst ins Unermessliche. Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, bis sie sich nicht mehr beherrschen konnte und aus der Leichengrube herauskletterte.
»Was tust du da?«, zischte ihre Mutter.
»Die haben Wasser! Die helfen uns!«
Gefolgt von ihren Eltern stolperte Sharon auf die unbekannten Gönner zu. Aufgrund ihrer Kurzsichtigkeit übersah sie hin und wieder auf die Straße geschleuderte Gebäudereste und wäre um ein Haar von einer rostigen Stahlstange aufgespießt worden. Aus den Ruinen der Stadt tauchten insgesamt fünf weitere Mitgefangene auf, die alle auf einen Schluck Wasser hofften.
Der Anführer der Bodentruppen schien sich bei seiner hilfsbereiten Vorgesetzten über die von ihr angerichtete Situation zu beschweren. Beide waren fernöstlichen Ursprungs, er schon etwas älter mit einem beinahe kreisrunden Gesicht und wohlgenährtem Bauch, sie hingegen gertenschlank und mit einer länglichen Gesichtsform. Ohne auf seine Kommentare einzugehen, ordnete die Pilotin die notdürftige Versorgung der Zwangsarbeiter an.
»Kann jemand von euch eine Karte lesen?«, fragte sie, nachdem ihre Untergebenen an jeden Sklaven einen halben Energieriegel und ein paar Flaschen kristallklaren Wassers verteilt hatten. Während sie geduldig auf eine Reaktion wartete, fiel ihr immer wieder eine violette Strähne ihres ansonsten glänzend schwarzen Haares ins Gesicht, die sie augenrollend zur Seite strich.
Schockiert von den Erschießungen und eingeschüchtert von den gigantischen Kriegsmaschinen brachten die ausgemergelten Überlebenden keinen Ton hervor, bis sich Sharon zögernd einen Schritt nach vorne wagte. Die junge Asiatin deutete ihr mit einer Handbewegung, ihr zu dem fliegenden Ungetüm zu folgen, wo sie eine dünne Folie hervorholte, die in der Sonne in allen erdenklichen Farben glänzte. Als sie mit dem Finger darüberstrich und plötzlich fremdartige Bilder darauf erschienen, zuckte Sharon erschrocken zurück. Die Pilotin blinzelte amüsiert mit ihren tiefbraunen Augen und zauberte eine Karte der Umgebung hervor.
Ihre Kurzsichtigkeit ließ Sharon die digitale Zeichnung bis kurz vor die Nasenspitze heranholen, was der Befehlshaberin natürlich nicht verborgen blieb. Sie rief ihren Sanitäter herbei und bat ihn um seine filigrane Brille, die eigentlich zu klein für den Mann war. Es gab keine Möglichkeit, Sharons benötigte Brillenstärke festzustellen, daher setzte sie ihr die Asiatin kurzerhand auf und fragte, ob sie dadurch besser sehen könne. Der erste Blick durch die dünnen Gläser wirkte auf Sharon wie Magie. Von einem Moment zum anderen konnte sie ihre viele Meter entfernten Eltern so klar erkennen, wie es ihr sonst nur in buchstäblich intimer Nähe denkbar war. Auch die Karte vermochte sie nun problemlos zu entschlüsseln, nachdem ihr die Asiatin die Symbole erklärt hatte. Zur großen Überraschung der Pilotin dauerte es keine Minute, bis Sharon die Funktionen des E-Papers vollständig verstanden hatte. Mit viel Fingerspitzengefühl zoomte sie die Landschaftsdarstellung hinein und heraus und suchte nach Erkennungsmerkmalen ihres vorherigen Arbeitslagers.
Sharon besaß einen hervorragenden Orientierungssinn, dank dem sie auch ohne genaue Ortskenntnis den Weg ihres Konvois nachvollziehen konnte. Sie vermochte sich zwar an keine Details zu erinnern, prägte sich aber dafür unübersehbare Gebäuderuinen oder Flugzeugwracks umso besser ein. Sowohl der grimmige Bodenkommandeur als auch die gertenschlanke Pilotin zeigten sich erfreut und dankbar, weshalb Sharon es wagte, sie um weitere Hilfe zu bitten. Der untersetzte Panzerkommandant erwiderte sofort mit heftigem Protest und diesmal verzichtete seine Vorgesetzte darauf, ihm zu widersprechen. Stattdessen ließ sie die hilfsbereite Sklavin zu ihren Eltern zurückführen.
Wieder mit ihrer Familie vereint beobachtete Sharon neugierig und verunsichert zugleich, wie sich die junge Frau mit dem alten Soldaten und einer unbekannten Stimme aus dem Funkgerät zu streiten schien. Sie war noch immer fasziniert davon, wie klar sie plötzlich alles sehen konnte.
Die verbale Auseinandersetzung dauerte nur ein paar Minuten. Auf einmal schleuderte die Asiatin ihr Funkgerät wütend in den Hubschrauber hinein, schnappte sich das E-Paper vom Pilotensitz und kam niedergeschlagen auf die Sklaven zu. Sharon rechnete damit, keine weitere Hilfe zu erhalten, und hatte sich schon mit ihrem Schicksal abgefunden, da drückte ihr die junge Frau die digitale Karte in die Hand
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