Revenants Trilogie 01 - Von der Nacht verzaubert
sich. Die Wirkung wäre sicher nicht anders gewesen, wenn sich eine Gruppe von Armani-Unterwäschemodels vor der Terrasse die Klamotten vom Leib gerissen hätte.
Die ältere Frau vom Nebentisch lehnte sich zu ihrer Begleiterin hinüber und sagte: »Ist dir plötzlich auch so heiß?« Ihre Freundin kicherte zustimmend, fächelte sich mit der eingeschweißten Speisekarte Luft zu und blickte ungeniert den Jungs hinterher. Ich schüttelte angewidert den Kopf — unmöglich, dass diesen Typen nicht bewusst war, wie viele gierige Blicke sich ihnen wie Pfeile in den Rücken bohrten, während sie sich langsam entfernten.
Wie um meine Theorie zu bestätigen, drehte sich der hübsche Schwarzhaarige plötzlich zu mir um, und als er sah, dass ich ihm nachschaute, lächelte er eingebildet. Röte schoss mir ins Gesicht und ich versteckte mich schnell hinter meinem Buch, weil ich ihm nicht auch noch die Genugtuung gönnen wollte, mich rot werden zu sehen.
Ich versuchte noch ein paar Minuten lang, die nächsten Sätze des Romans zu verstehen, ehe ich aufgab. Meine Konzentration war dahin, also zahlte ich für meine Getränke, ließ ein Trinkgeld auf dem Tisch liegen und machte mich auf den Weg zurück in die Rue du Bac.
O hne Eltern zu leben, wurde keineswegs leichter.
Ich hatte das Gefühl, von einer Eisschicht umhüllt zu sein. Auch innen drin war ich ganz kalt. Aber ich klammerte mich regelrecht an diese Kälte: Wer wusste denn, was passieren würde, wenn das Eis taute und ich tatsächlich wieder etwas fühlen konnte? Wahrscheinlich würde ich mich erneut in diese nichtsnutzige Heulsuse verwandeln, die ich in den ersten Monaten nach dem Tod meiner Eltern gewesen war.
Mein Vater fehlte mir ganz fürchterlich. Es war unerträglich, dass er aus meinem Leben verschwunden war. Dieser attraktive Franzose, den jeder sofort ins Herz geschlossen hatte, der auch nur einen kurzen Moment in seine lachenden grünen Augen sah. Wenn er mich betrachtete und unverhohlene Bewunderung auf seinem Gesicht glühte, wusste ich: Ich würde immer einen Fan auf dieser Welt haben, der mir vom Spielfeldrand zujubelte, egal, welche Dummheit ich auch anstellte.
Der Tod meiner Mutter tat so entsetzlich weh, als wäre sie eins meiner Organe gewesen, das man mir mit einem Skalpell entfernt hatte. Sie war meine Seelenverwandte, genau das Wort hatte sie stets benutzt. Natürlich haben wir uns nicht immer gut verstanden. Aber jetzt nach ihrem Tod musste ich lernen, mit diesem großen, brennenden Loch zu leben, das ihr Verlust in mich gerissen hatte.
Wenn ich mich wenigstens nachts für ein paar Stunden aus der Wirklichkeit hätte stehlen können, wäre die Zeit im wachen Zustand vielleicht erträglicher gewesen. Aber der Schlaf war mein ganz persönlicher Albtraum. Meist lag ich im Bett, bis mich seine samtig-weichen Finger langsam erfassten und ich nur noch Endlich! denken konnte. Aber schon eine halbe Stunde später war ich wieder wach.
Eines Nachts war ich mit meiner Weisheit am Ende, lag mit dem Kopf auf dem Kissen, die Augen offen und starrte an die Decke. Mein Wecker zeigte ein Uhr. Mit dem Gedanken an die lange Nacht, die noch vor mir lag, krabbelte ich aus dem Bett, fischte nach den Klamotten, die ich am Tag getragen hatte, und zog sie mir über. Als ich in den Flur trat, sah ich Licht unter Georgias Tür hindurchschimmern. Ich klopfte an und öffnete sie.
»Hallo«, flüsterte Georgia. Sie lag komplett angezogen auf dem Bett, mit dem Kopf am Fußende. »Bin gerade erst nach Hause gekommen«, fügte sie hinzu.
»Du kannst auch nicht schlafen«, sagte ich. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Wir kannten einander einfach zu gut. »Hast du Lust, ein bisschen mit mir spazieren zu gehen?«, fragte ich. »Ich hab keine Lust, wieder stundenlang wach zu liegen. Es ist erst Juli und ich hab schon alle Bücher gelesen, die ich besitze. Zweimal sogar.«
»Bist du verrückt?«, fragte Georgia und drehte sich auf den Bauch. »Es ist mitten in der Nacht.«
»Genau genommen fängt die Nacht gerade an, es ist erst ein Uhr. Da sind noch immer jede Menge Leute unterwegs. Und außerdem ist Paris die sicherste ...«
»... Stadt der Welt«, beendete Georgia den Satz. »Das ist Papys Lieblingsspruch. Er sollte beim Tourismusverband anheuern. Also gut, warum nicht? Ist ja nicht so, als würde ich in nächster Zeit einschlafen.«
Wir schlichen auf Zehenspitzen zur Wohnungstür, öffneten sie geräuschlos und schlossen sie mit einem leisen Klicken.
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