Revenants Trilogie 01 - Von der Nacht verzaubert
sah sie mir genauer an. Dickes blondes, fast weißes Haar fiel über ihre Schultern. Die hohen Wangenknochen und hellblauen Augen gaben ihr ein leicht skandinavisches Aussehen.
Ein Mann näherte sich ihr von der Bar her. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, denn er hatte mir den Rücken zugewandt. Er setzte sich ihr gegenüber, nahm die Kaffeetasse, die vor ihm stand, und leerte sie in einem Zug. Dann legte er seine Hand auf ihre, die grazil auf der Tischplatte ruhte. Er sagte etwas zu ihr, woraufhin sie ihren Blick abwandte und auf die Tischplatte schaute. Eine Träne lief ihr über die anmutige Wange; der Mann hob sofort seine Hand, um die Träne sanft aufzufangen. Er strich ihr zärtlich eine verirrte Strähne aus dem Gesicht, auf eine Art, die mir sehr bekannt vorkam.
Bei dieser plötzlichen Erkenntnis blieb mein Herz stehen. Ein kalter Schauer überlief mich. Hastig riss ich meine Tasche an mich und stieß dabei den gläsernen Salzstreuer vom Tisch, der laut scheppernd auf dem Boden landete. Die Frau warf einen Blick in meine Richtung und sagte etwas zu ihrem Begleiter. Dieser drehte sich zu mir um und erstarrte mit einem Ausdruck tiefster Erschütterung auf seinem schönen Gesicht. Ich hatte recht, es war Vincent.
Genau in diesem Augenblick erschien der Kellner wie aus dem Nichts mit einem Handfeger und Kehrblech. »Tut mir leid«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, schnappte mir meinen Mantel vom Stuhl und quetschte mich an dem Keller vorbei nach draußen.
Ich rannte den ganzen Weg nach Hause. Mein Gesicht war von der Kälte so taub, als hätte man mir Betäubungsmittel gespritzt. Ich hab ihn verlassen, sagte ich mir, nicht andersrum. Warum also sollte er keine Neue gefunden haben?
Sofort schoss mir durch den Kopf, dass er mich vielleicht doch angelogen hatte und er sich entgegen all seinen Beteuerungen seit seiner jugendlichen Romanze trotzdem verliebt hatte. Vielleicht war er sogar die ganze Zeit über mit dieser umwerfenden Blondine zusammengewesen. Mein gepeinigtes Herz sagte mir aber, dass das nicht stimmen konnte. Vincent würde mich nicht belügen. Und Charlotte auch nicht. Sie hatte ja ebenfalls gesagt, dass ich das erste Mädchen sei, in das Vincent sich verliebt habe, seit er ein Revenant geworden war.
Mein Zugeständnis, dass ihn absolut keine Schuld traf, weil ich diejenige gewesen war, die ihn verlassen hatte, linderte den Schmerz in meiner Brust jedoch kein bisschen.
Als ich zu Hause ankam, stürzte ich sofort in Georgias Zimmer, ohne vorher anzuklopfen. »Gehen wir«, sagte ich atemlos. Sie lächelte und hielt ein kurzes Spitzenkleid hoch.
G egen neun verließen wir das Haus und kletterten in den Wagen, der unten wartete. Ich quetschte mich auf die Rückbank zu zwei Mädchen, die ich vom Sehen her aus der Schule kannte, während Georgia sich auf den Beifahrersitz schwang und einem gut aussehenden jungen Mann, den ich noch nie zuvor gesehen hatte, einen Kuss auf den Mund drückte.
So begrüßte Georgia Jungs, die sie mochte. Ich würde sie später über ihn ausfragen. Sie stellte uns vor. »Lawrence — Brite, Mags — Irin, Ida — Schwedin, das ist meine Schwester Kate, die ganz dringend einen ordentlichen Partyabend nötig hat. Wenn sie gelangweilt nach Hause fährt, dann mache ich jeden Einzelnen von euch dafür verantwortlich.« Sie stellte das Radio lauter, Lawrence gab Gas und schon waren wir auf dem Weg.
Die Bar lag in einem der raueren Viertel am östlichsten Zipfel von Paris. Einer Gegend, die besonders bei den Künstlern, Models und Musikern beliebt war, die ihren großen Durchbruch noch nicht geschafft hatten. Nach und nach hatten sich hier immer mehr trendige Klubs angesiedelt, vor deren Türen kleine Grüppchen superhipper Menschen bibbernd in der Kälte standen und rauchten.
Wir hielten vor einem Gebäude, aus dem Musik dröhnte, und das im Takt der Bässe zu beben schien. Ein riesiger Türsteher wartete vorm Eingang. Er trug eine Jeans und ein ärmelloses Hemd, unter dem sich seine beeindruckende Brustmuskulatur abzeichneten. Lawrence rief ihm über die laute Musik hinweg etwas zu, woraufhin der Mann die Tür einen Spalt breit öffnete, um uns durchzulassen.
Wir betraten das Gewölbe, das so breit war wie ein Ballsaal, aber nur etwa zweieinhalb Meter hoch. Auf der einen Seite stand das DJ-Pult, an der gegenüberliegenden Wand erstreckte sich die schummrig beleuchtete Theke. Der gesamte Raum war nur eine Katakombe, ohne große Sorgfalt in den
Weitere Kostenlose Bücher