Richard Castle
auf diesem Pier der Stadtreinigung zu retten. Fellers Galgenhumor mochte zu der Zeit gepasst haben, als er noch bei der Spezialeinheit gewesen und die ganze Nacht als Mitglied der Taxi-Einheit in getarnten Taxis durch die harte Machowelt New York Citys gefahren war, doch in ihrem Team war für so etwas kein Platz. Zumindest nicht in dem Bereich hinter dem Absperrband. Das war nicht die erste Unterhaltung dieser Art, die sie führten, seit er nach seiner Genesung zu ihrer Mordermittlungseinheit gewechselt war.
„Ich weiß, ich weiß, so was rutscht mir eben einfach so raus.“ Sie erkannte, dass er es ernst meinte, und es hatte keinen Sinn, noch länger darauf herumzureiten. „Beim nächsten Mal behalte ich es einfach für mich. Versprochen.“ Heat nickte kurz und machte sich zu dem Lieferwagen auf.
Von der Straße aus musste Nikki den Kopf zurücklegen, um in den Laderaum zu Lauren Parry hinaufsehen zu können, die im Inneren des Wagens auf dem Boden hockte. Die gestapelten Kartons weiter hinten waren voller Kondenswasser, und auf manchen von ihnen glitzerten sogar Eiskristalle, die sich an den Seiten gebildet hatten. Obwohl die Kühlvorrichtung abgeschaltet war, schlug Heat ein Schwall eisiger Luft entgegen. Vor Laurens Knien lag ein geöffneter blaugrauer Hartschalenkoffer, dessen Klappe so positioniert war, dass Nikki den Inhalt nicht sehen konnte. „Morgen, Dr. Parry“, sagte sie.
Ihre Freundin drehte sich zu ihr herum und lächelte. „Hey, Detective Heat.“ Nikki konnte sehen, wie Laurens Atem kondensierte und kleine Wölkchen bildete. „Ich hab hier einen komplizierten Fall für dich.“
„Wann ist es denn mal nicht kompliziert?“
Die Gerichtsmedizinerin bewegte nachdenklich den Kopf hin und her und stimmte ihr schließlich zu. „Willst du die grundlegenden Fakten hören?“
„Das wäre ein guter Anfang.“ Nikki zückte ihren eigenen Notizblock, ein dünnes Exemplar mit Spiralbindung, das perfekt in ihre Blazertasche passte.
„Eine weibliche Unbekannte. Kein Ausweis, keine Handtasche, kein Portemonnaie, kein Schmuck. Ich schätze ihr Alter auf Anfang sechzig.“
„Todesursache?“, fragte Heat.
Lauren Parrys Augen lösten sich von ihrem Klemmbrett und richteten sich fest auf die ihrer Freundin. „Woher wusste ich nur, dass du mir diese Frage stellen würdest?“ Sie warf einen Blick ins Innere des Koffers und fuhr fort. „Ich kann es noch nicht sagen. Das Beste, womit ich dienen kann, ist eine vorläufige Vermutung.“
„Woher wusste ich nur, dass das deine Antwort sein würde?“, erwiderte Nikki im gleichen Tonfall wie Lauren.
Die Gerichtsmedizinerin lächelte erneut, und aus ihren Nasenlöchern strömten dünne Kondensstreifen. „Warum kommst du nicht hier rauf, dann kann ich dir zeigen, womit ich es zu tun habe.“
Detective Heat stieg die geriffelte Metallrampe hoch, die vom Bürgersteig in den Laderaum des Lieferwagens führte. Als sie das Fahrzeug betrat, blieb ihr Blick für einen Moment an dem Koffer hängen, woraufhin sie ein eisiger Schauer überkam, der ihre Zähne zum Klappern brachte. Sie schob es auf den plötzlichen Temperaturunterschied – immerhin war sie gerade aus dem milden Aprilmorgen in die Januarkälte im Inneren des Laderaums getreten – und riss sich zusammen.
Lauren stand auf, damit Nikki sich an ihr vorbeizwängen und einen Blick auf die Leiche werfen konnte. „Ich verstehe, was du meinst“, sagte Heat.
Die Leiche der Frau war tiefgefroren. Eiskristalle wie die, die auf den Kartons mit Rinderhack, Hähnchenfleisch und Fischstäbchen schimmerten, bedeckten ihr Gesicht. Sie trug einen hellgrauen Anzug und war in Embryonalstellung zusammengequetscht worden, damit sie in den Koffer passte, in dem sie nun auf der Seite lag. Lauren deutete mit der Kappe ihres Stifts auf den mit Frost überzogenen Blutfleck, der den Rücken des Anzugs bedeckte. „Das hier ist ganz offensichtlich der beste Hinweis auf die mögliche Todesursache. Es handelt sich um eine deutliche Stichwunde, die dem Opfer von hinten in den Brustkorb zugefügt wurde. Der Blutmenge nach zu urteilen, ist das Messer seitlich zwischen den Rippen eingetreten und hat das Herz getroffen.“ Heat verspürte das unangenehme Gefühl von Déjà-vu, das sie jedes Mal überkam, wenn sie eine dieser Wunden sah. Sie gab jedoch keinen Kommentar ab, sondern nickte nur und verschränkte die Arme, um die Gänsehaut zu bekämpfen, die trotz des Blazers zweifellos von der kalten Umgebung ausgelöst worden war.
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