Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
gern auf sein eigenes Leben projiziert – bis hin zu den Namen seiner Haustiere.
Das vorliegende Buch sucht zwar Wagners Werke in die Chronologie seines Lebens einzubetten, verzichtet aber in der Regel auf eine detaillierte Lebensschilderung, die oft genug geleistet worden ist. Carl Dahlhaus hat schon – bevor eine neue Flut von Biographien einsetzte – in seinem Buch Richard Wagners Musikdramen (1971) bemerkt: »Wagners Leben ist so oft erzählt worden, daß es nicht mehr erzählbar ist. Und es braucht auch nicht erzählt zu werden. Denn nichts wäre falscher, als in Wagners Musik das tönende Abbild der Biographie zu sehen.« Und er fügt hinzu, »daß für Wagner, der gegen sich selbst so rücksichtslos wie gegen andere war, nichts zählte außer dem Werk«. Diesem Werk aber und seiner ›Biographie‹ soll dieses Buch in erster Linie gewidmet sein; es will sich leiten lassen von Wagners Überzeugung, dass jedes große Kunstwerk nicht dem Selbsterlebten, sondern der Gabe des Zweiten Gesichts für das Nie-Erlebte zu danken ist.
Vom Kind zum Dilettanten – Ungeniale Anfänge eines Jahrhundertgenies
»Am 22. Mai 1813 in Leipzig auf dem Brühl im ›Rot und Weißen Löwen‹, zwei Treppen hoch, geboren, wurde ich zwei Tage darauf in der Thomaskirche mit dem Namen Wilhelm Richard getauft.« Mit diesem Satz beginnt Richard Wagners Autobiographie Mein Leben (ML 9) . Der Name der Thomaskirche (in der Wagner freilich nicht schon zwei Tage nach seiner Geburt, sondern erst am 16. August getauft wurde) ist für alle Zeiten mit dem Namen von Johann Sebastian Bach verbunden, der auch für Wagner – zumal in seiner letzten Lebenszeit – eine bedeutende Rolle spielen wird. Doch der Name Bachs fällt hier noch nicht. Leipzig ist in Wagners Geburtsjahr Schauplatz ganz anderer Ereignisse, die seine frühe Lebensgeschichte überschatten. Die Stadt ist von französischen Truppen besetzt, fünf Monate später werden sie in der Völkerschlacht bei Leipzig in einem konzentrischen Angri ff von den verbündeten Heeren der Österreicher, Preußen, Russen und Schweden besiegt: der Höhepunkt der Befreiungskriege. Die Vorherrschaft Napoleons über Europa ist beendet, seine alles beherrschende Macht in Deutschland zusammengebrochen.
Mitten in diesen gewaltigen politischen Umbruch fällt die Geburt Wagners, eines rechten Kriegskindes. Schon wenige Tage nach seiner Geburt fl ieht die Familie wegen der Kriegswirren aus der Stadt und begibt sich nach Teplitz, wo Ludwig Geyer (1779–1821), der langjährige Freund der Familie und spätere Stiefvater Wagners, am Theater engagiert ist. Es sind genau die Wochen, in denen auch Johann Wolfgang von Goethe in Teplitz zur Kur weilt, der Geyer wohl kannte und ein Lustspiel aus seiner Feder Wagner zufolge »freundlichst gelobt« haben soll (ML 11). Im August kehrt die Familie nach Leipzig zurück und gerät vom Regen unter die Traufe. Den Tod seines Vaters, des Juristen und Polizeiaktuarius Carl Friedrich Wilhelm Wagner (1770–1813), am 23. November gibt Wagner in Mein Leben als unmittelbare Folge übergroßer Anstrengung während »der kriegerischen Unruhen und der Schlacht bei Leipzig« aus (ML 9). Tatsächlich ist er Opfer einer Typhusepidemie geworden. Friedrich Wagner muss, wie kein Geringerer als E. T. A. Ho ff mann in seinem Tagebuch vom 17. Juni 1813 berichtet, ein trinkfester und mit beachtlichem schauspielerischem Nachahmungstalent begabter »exotischer Mensch« gewesen sein, von dem sein Sohn die histrionische Begabung geerbt zu haben scheint.
Mit dem Ende der napoleonischen Herrschaft beginnt eine neue Epoche der Kultur. Symbolisch dafür mag stehen, dass 1813 auch das Todesjahr von Christoph Martin Wieland ist, des letzten großen Repräsentanten der Aufklärung in Deutschland und Ältesten im Viergestirn der Weimarer Klassik, von dem nur noch Goethe unter den Lebenden weilt. Und 1813 ist nicht nur das Geburtsjahr von zwei anderen bedeutenden Dramatikern neben Wagner: Friedrich Hebbel und Georg Büchner, sondern auch von seinem großen italienischen Antipoden Giuseppe Verdi. Ein rechtes Dramatikerjahr. In Wagners und Verdis Gegenwelten wird das Musiktheater des 19. Jahrhunderts unleugbar seinen Doppelgipfel erreichen.
Gleich auf der ersten Seite seiner Autobiographie stellt Wagner über seinen Vater einen Bezug zur Kultur von Weimar her: der wenige Monate nach seiner Geburt verstorbene Vater sei ein leidenschaftlicher Liebhaber von Poesie und Theater gewesen und mit der Mutter
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