Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
blieben, die einen kontinuierlichen Bildungsgang verhinderten. Viel zu früh und allzu oft auf sich selbst gestellt, ohne elterliche Lenkung und kompetente Wegweisung waren Richard Wagners Lehrjahre von Leerjahren bisweilen nicht weit entfernt. Familiäre Stabilität, gar »Familienzärtlichkeit« hat der Vaterlose nicht kennengelernt. Von seiner Mutter glaubt er »kaum je […] geliebkost worden zu sein, wie überhaupt zärtliche Ergießungen in unserer Familie nicht stattfanden« (ML 18). Das muss ihn in seiner – von Freunden und Familie gern belächelten – Gefühlsseligkeit (»Amtmann Rührei« war sein Spitzname bei den Geschwistern; CT I, 187) und Liebesbedürftigkeit oft verletzt haben und mag seine Neigung zur Liebesumklammerung von Frauen und Freunden in späteren Jahren erklären.
Der vielleicht wichtigste Bildungsmittler seiner Jugend war sein Onkel, der Privatgelehrte und Übersetzer Adolf Wagner (1774–1835) in Leipzig, der durch persönliche Beziehungen zu bedeutenden Literaten der Zeit (er kannte E. T. A. Ho ff mann – der scherzhaft-rühmend in seinem Tagebuch vom 31. Dezember 1813 von ihm behauptet, er spreche »1700 Sprachen« – und Tieck persönlich, korrespondierte mit Jean Paul und hatte in seiner Jugend sogar noch Schiller kennengelernt), seine umfangreiche Bibliothek und einen außerordentlichen Bildungsfundus, den er seinem lernbegierigen Ne ff en bereitwillig ö ff nete, den geistigen Horizont Wagners in kaum zu überschätzender Weise prägte und immer wieder erweiterte. Die eigentliche Schulbildung, im Privatunterricht, an der Kreuzschule und seit der Rückkehr der Familie nach Leipzig an der Nikolaischule (1828–1830) blieb Stückwerk, so auch seine musikalische Ausbildung – im Selbststudium und Privatunterricht, an der Thomasschule und an der Leipziger Universität –, die erst durch den Unterricht bei dem Thomaskantor Theodor Weinlig (1831) in professionelle und systematische Bahnen gelenkt wurde. Unter Weinligs Anleitung entstanden auch nach einer Reihe meist verschollener dilettantischer Versuche die ersten wirklich professionellen Kompositionen für Klavier (die Sonate in B-Dur WWV 21 war die erste Komposition Wagners, die auf Veranlassung von Weinlig bei Breitkopf & Härtel im Druck erschien) und für Orchester, deren ehrgeizigste die Sinfonie in C-Dur (WWV 29, 1832) ist und von denen die d-Moll-Ouvertüre (WWV 20) und die Musik zu König Enzio (WWV 24) sogar im Königlich Sächsischen Hoftheater aufgeführt wurden.
Für Wagner war in der Zeit vor dem Unterricht bei Weinlig Musik etwas ganz und gar nicht Regulierbares, handwerklich Erlernbares. Er gab sich vollkommen einem romantisierenden Dilettantismus hin. »Die Musik war mir durchaus nur Dämonium, eine mystisch erhabene Ungeheuerlichkeit: alles Regelhafte schien sie mir durchaus zu entstellen.« E. T. A. Ho ff manns Phantasiestücke boten ihm höhere Belehrung als das mühselige Studium der Harmonielehre, »und jetzt war die Zeit, wo ich so recht eigentlich in diesem Ho ff mannschen Kunstgespensterspuk lebte und webte« (ML 39). Dass sein »Lieblingsschriftsteller« (ML 39) selber ein professioneller Komponist gewesen ist, dem »Besonnenheit« höchstes Kunstprinzip war und der die Wiener Klassiker als die Herrscher im Reich der von ihm als »romantisch« de fi nierten Musik ansah, ist Wagner kaum bewusst geworden.
In Mein Leben hat Wagner betont, dass in seiner frühen Jugend (bis zum Fidelio -Erlebnis mit Wilhelmine Schröder-Devrient im April 1829) die »Beschäftigung mit Musik Nebensache« für ihn gewesen sei (ML 36), im Schatten seiner literarischen und durch seine Griechenlandbegeisterung ausgelösten mythologischen Interessen gestanden habe. »Ganz unzweifelhaft stand es vor mir, daß ich zum Dichter bestimmt sei.« (ML 22) Als dieser Dichter trat er am anspruchsvollsten in seinem 1826–28 entstandenen monströsen fünfaktigen Trauerspiel Leubald (WWV 1) hervor, das sich einerseits in den Spuren der Ritterdramatik à la Goethes Götz von Berlichingen bewegt, anderseits eine Art Shakespeare-Patchwork darstellt. Dass Wagner von Shakespeare, der für ihn zeitlebens das Zentralgestirn der Literaturgeschichte darstellte, schon in seiner Kindheit in den Bann gezogen worden ist, wird durch die kompilatorischen Figuren- und Handlungskonstellationen seines Erstlingsdramas jedenfalls hinreichend belegt. Nach seinem autobiographischen Bericht hat er vorgehabt, das Trauerspiel dem Vorbild von Beethovens Egmont- Musik
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