Ritual - Höhle des Schreckens
Pastor Wilbur verschlug es mitten in seiner gedrechselten, reich mit Zitaten geschmückten Predigt die Sprache. Ludwig erholte sich dagegen so rasch und gründlich, dass er noch im Krankenhaus auf seiner klapperigen Schreibmaschine das erste Kapitel eines Buches über seine Begegnung mit dem sagenumwobenen Mörder tippen konnte. Darin beschrieb er, dass der Kerl ihm lediglich die Schuhe weggenommen, ihn selbst jedoch für tot gehalten und im Mais liegen gelassen hatte.
Corrie legte ihr Buch weg, räkelte sich zurecht und sah durchs Fenster den kleinen Wölkchen nach. Das Footballteam der Stadt hatte mit dem Training begonnen, in zwei Wochen fing die Schule wieder an. In der Stadt kursierte das Gerücht, die KSU habe beschlossen, ihr Versuchsfeld irgendwo in Iowa anzulegen. Aber darin sah kaum noch jemand ein großes Unglück, ganz im Gegenteil. Pendergast schien der Meinung zu sein, dass die Farmergenossenschaft mit ihren Vorhersagen über die langfristigen Folgen gentechnischer Veränderungen durchaus richtig liege. Die Mehrzahl der Einwohner hatte das Projekt ohnehin abgeschrieben, weil sich inzwischen alle für die Idee erwärmt hatten, das Höhlensystem zu einem Nationalpark auszugestalten, der reichen finanziellen Segen in die Stadtkasse spülen sollte. Ein paar raffgierige Spekulanten träumten bereits vom größten geschlossenen unterirdischen System in Amerika seit der Entdeckung der Carlsbad Caverns. Nun, irgendwann würde sich erweisen, ob die Blütenträume reiften oder wie eine Seifenblase zerplatzten.
Corrie seufzte. Ihr konnte das im Grunde egal sein. Noch gerade mal ein knappes Jahr, dann waren Medicine Creek und seine Probleme für sie nur noch vage Erinnerungen.
Während draußen die Sonne unterging und die Nacht sich ankündigte, schlüpfte sie aus dem Bett, war mit zwei, drei Schritten bei ihrem Schreibtisch, zog das unterste Fach auf, tastete den Boden ab, löste das Klebeband, mit dem sie die Geldscheine befestigt hatte, und zählte nach. Eintausendfünfhundert Dollar, alles noch da. Ihre Mutter hatte das Versteck nicht gefunden. Und überhaupt – nach allem, was passiert war, hatte sie aufgehört, auf Corrie herumzuhacken. Am ersten Tag nach der Entlassung aus dem Krankenhaus war sie sogar sehr nett zu ihr gewesen. Aber Corrie wusste, dass das nicht so bleiben würde. Ihre Mutter arbeitete wieder, und da konnte es nicht lange dauern, bis sie wieder die Wodkafläschchen anschleppte, sich betrank und übellaunig wurde. Jede Wette, dass sie nach spätestens zwei Tagen wieder mit dem leidigen Thema Geld anfing.
Nachdenklich schob Corrie die Geldscheine von einer Hand in die andere. Pendergast hielt sich nun schon eine ganze Woche in der Stadt auf, um mit Hazen und der State Police an der Beweissicherung für die gerichtliche Anhörung zu arbeiten. Er hatte sie angerufen und ihr gesagt, dass er morgen abreisen werde und ihr gern adieu sagen wolle. Und, hatte er hinzugefügt, bei der Gelegenheit würde er gern sein Mobiltelefon mitnehmen.
Nur darum geht’s ihm nämlich, dachte sie verbittert, er will sein dämliches Mobiltelefon wieder haben.
Zugegeben, er hatte sie wiederholt im Krankenhaus besucht und sich jedes Mal sehr besorgt und herzlich gegeben, aber irgendwie hatte sie sich mehr erhofft. Sie schüttelte über sich selber den Kopf. Womit hatte sie denn gerechnet? Dass er sie als seine Assistentin mitnehmen würde? Lächerlich! Außerdem schien es irgendetwas zu geben, was er dringend in New York erledigen musste. Aus mehreren Telefonaten hatte sie herausgehört, dass es um einen gewissen Wren ging. Mehr wusste sie nicht, Pendergast hatte jedes Mal mit dem Mobiltelefon am Ohr rasch das Zimmer verlassen. Nun gut, das alles ging sie nichts mehr an. Er fuhr weg, und für Sie fing in zwei Wochen die Highschool wieder an: das Seniorjahr, ihr letztes Schuljahr in Medicine Creek. Das letzte Jahr in der Hölle.
Zumindest würde sie keinen Ärger mehr mit Sheriff Hazen bekommen. Irgendwie komisch, seit er ihr das Leben gerettet hatte, schien er eine Art väterliche Zuneigung für sie zu empfinden. Richtig cool war er gewesen, als sie ihn nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus besucht hatte. In gewisser Weise hatte er sich sogar bei ihr entschuldigt, zwar nicht mit Worten, aber durch sein ganzes Gehabe. Als sie sich nämlich bei ihm für ihre Rettung bedankt hatte, waren ihm tatsächlich ein paar Tränen über die Wangen gekullert.
Nein, hatte er gesagt, er habe viel zu wenig getan, praktisch
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